10 Tage, 10 Kleidungsstücke: Kann aus Verzicht wirklich Befreiung werden?

Wie konnte das denn jetzt eigentlich schon wieder passieren?! Da sitze ich also, im Schneidersitz, kaue auf meinen Nägeln herum und lasse den Blick fieberhaft über den Boden gleiten. Vielleicht beschreibt es „erschöpft“ inzwischen aber sogar noch besser. Finger gleiten über wechselnde, zerknüllte Materialien. Baumwolle, Jeans, Leinen, Strick. Stapel mit schwarzen und solche mit weißen Kleidungsstücken türmen sich um mich herum. Denn ich habe eine entscheidende Aufgabe, an diesem Sonntagabend. Ich will mich selbst reflektieren. Mein (Kauf-)Verhalten analysieren – indem ich 10 Tage lang nur 10 verschiedene Kleidungsstücke trage.

Es ist eine Aufgabe, die sich als schwieriger erweist, als gedacht. Spätestens ab dem Moment, in dem ich den Wetterbericht öffne. Denn jaaaa, Schuhe zählen dazu. Ebenso wie die wärmende Jacke. Und bevor jemand zu unken beginnt: Neiiin, Unterwäsche, Socken und Strumpfhosen sind raus.

Weil es bei dieser, meiner Aufgabe nicht um bedrohlichen Verzicht gehen soll oder um ein Leben am Existenzminimum. Es gibt genug Menschen auf der Welt, die ihre Unterwäsche tatsächlich nicht täglich wechseln können. Das ist kein Spiel und auch keine Challenge, das ist deren harte Realität. Niemals sollte ich aus meiner privilegierten Position heraus also so tun, als würde es mir ähnlich gehen können.

Stattdessen ist doch ein ganz anderer Punkt entscheidend: Mich selbst mal ein wenig in Frage zu stellen. Wofür brauch ich all diese Klamotten in meinem Schrank? Wieso ist es inzwischen so normal, einzelne Teile nur wenige Male zu tragen? Warum kaufen wir trotzdem immer mehr? Wie reagiert mein Umfeld, wenn meine Outfits nicht mehr ständig wechseln? Und was sagt es eigentlich über mich selbst aus, dass ich darauf so viel Wert lege? Es ist ein Bewusstmachen und ein Lernprozess. Einer, der mich eingrenzt und mir dennoch neue Chancen aufzeigt. Kann schließlich auch mal ganz befreiend sein, den ungebremsten Kaufdrang stückweise aus der eigenen Filterblase zu verdrängen. Oder etwa nicht? 😏

Wer ausprobiert, der lernt dazu

Und wer sich frei macht, der lernt vielleicht sogar sich selbst ein wenig besser kennen. Mindblowing! Denn so gerne ich mich auch als diejenige präsentieren würde, der das alles wie von Zauberhand gelingt, so sehr muss ich mir doch eingestehen: Aller Anfang ist schwer. Sind halt eingetrichterte Gewohnheiten – und die durchbrechen sich nicht so leicht.

Die beliebteste Ausrede, die mir dabei so über die Lippen kommt? „Ihr wisst schon, das fiese Wetter und so. Gerade hier in Hamburg…!“ Womit wir dann auch schon wieder beim Wetterbericht wären. Stimmt schon. In den ersten Tagen meines Selbstversuchs soll es regnen, stürmen, toben – bei ernüchternden 16 Grad. Am Wochenende dagegen kehrt der Sommer ein. Mit 24 Grad und Sonnenschein. Oh Boy. Perfekt gewählter Zeitraum also

Doch so gerne ich mich auch selbst bemitleiden möchte (und es auch tue!), so versöhnt bin ich am Ende damit. Soll ja schließlich auch was bewegen. Und mir im besten Fall meinen eigenen Standpunkt eimal mehr vor Augen führen.

Ein geleerter Kleiderschrank, mehrere panische Umräumaktionen und viele verzweifelte Nachrichten an meine Fashion-Kollegin später, hängen nun also 8 Teile an meiner Kleiderstange. Vorerst bin ich zufrieden. Ein langes, graues  Slipdress, zwei Jeanshosen, ein geripptes Shirt in Weiß, zwei Blazer, ein Rollkragen-Longsleeve, der obligatorische schwarze Hoodie. Hinzu kommen: ein einziges paar Sneakers und der neu ergatterte Trenchcoat.

Unmöglich oder doch gut machbar?!

Die Meinungen in meinem Umfeld gehen auseinander, als ich von meinem Vorhaben berichte. Während einige nicht einmal zwei Tage hintereinander die selben Schuhe tragen wollen, zucken andere bei dem Gedanken nur müde mit den Schultern. Wie gut also, dass ich bei mir selbst anfange. Mode ist schließlich meine ganz eigene kleine verbotene Frucht. Und das, obwohl ich seit über einem Jahr bereits bewusst nur noch gebraucht tausche und Second-Hand kaufe.

» Meine unbedachte Online-Shopping-Wut ist einem selektierten Second-Hand-Stöbern gewichen. «

Umso glücklicher bin ich, als bereits nach wenigen Tagen die erhoffte Ruhe folgt. Denn so eine geringe Auswahl entschleunigt. Ich muss mich nicht zwischen 6 Hosen entscheiden, sondern zwischen zwei. Ich hab nicht die Wahl zwischen unendlichen Kombinationen, sondern zwischen einer Handvoll. Mein Outfit steht so schnell wie noch nie. Und zudem ist es täglich eines, in dem ich mich wohlfühle. Zu 100 %. Klar, denn auf einmal klingt es furchtbar dämlich, Teile zu tragen, die nicht wirklich (zu mir) passen. Warum fehlt dieser Gedanke im normalen Alltag eigentlich so oft?!

Bequemer ist mein Leben also allemal. Wohler fühle ich mich auch. Nur die Jackenthematik stößt mir übel auf. Es regnet und regnet und regnet – doch an die Regenjacke komme ich in diesen 10 Tagen schlichtweg nicht ran. Nasswerden ist also angesagt. Wer besitzt in Hamburg schon ’nen Regenschirm?! Auch Auslüften, Temperaturen abwägen und sorgfältig sein, steht plötzlich hoch im Kurs. Durchaus höher als zuvor, muss ich zugeben. Das Kleid unachtsam in eine Ecke pfeffern? ENTSCHULDIGUNG?! Nach dem Abend in der Kneipe das getragene Outfit in der Waschmaschine verbannen? WO DENKST DU HIN?? Jedes einzelne Kleidungsstück wird zu einem eigenen kleinen Schatz. Wird gehegt und gepflegt, nicht mehr geknautscht und verwaschen. Sollte das nicht eigentlich der Normalzustand sein…?

Wir müssen Luxus neu definieren

Meiner könnte es werden. Hoffentlich nicht nur für diesen Moment. Ebenso wie es zu meinem durchaus annehmbaren Alltag wird, nicht mehr ständig über jeden Look nachdenken zu müssen. Ich weiß, wie ich die Teile kombinieren kann, hab mir bewusst schon vorab meine Gedanken gemacht – und muss jetzt quasi nur noch hineinschlüpfen. Auch als ich übers Wochenende meinen Freund in Berlin besuche, bleibt die Packliste überschaubar wie nie: 10 Tage, 10 Teile. Ohne dabei meinen persönlichen Stil vernachlässigen zu müssen. Denn um mich herum bemerkt quasi niemand, dass ich häufig Ähnliches trage. Kein schiefer Blick, keine gerümpften Nasen. Meine Kolleginnen vergessen die Challenge zwischenzeitlich sogar ganz, so sehr sind meine Outfits „wie immer“. Und die WG? Die hat einen Unterschied vermutlich noch nicht einmal bemerkt. Daran könnt‘ ich mich doch glatt gewöhnen.

Wenn die Basics nämlich stehen, folgt der Rest oft ganz von allein. Klar, jeden neuen Trend werde ich mit dieser Einstellung wohl nicht mitmachen können. Aber will ich das überhaupt (noch)? Meine unbedachte Online-Shopping-Wut ist einem selektierten Second-Hand-Stöbern gewichen. 5 mal schauen ersetzt 10 mal kaufen – und macht mich trotzdem glücklicher.

Wenn ab Tag 3 plötzlich alles federleicht(er) wird…

Ähnlich wie am Morgen vor der Kleiderstange, entschleunigt auch die fehlende Reizüberflutung durch Online-Shops meinen Alltag. Bereicherung durch Verzicht. Oder stattdessen? Ich will nicht ständig jedem Trend hinterherjagen. Ich will Altes pflegen, aufwerten, neu kombinieren. Es sind nicht genau diese 10 Teile allein, auf die es letztendlich ankommt. Es ist der allgemeine Umgang mit einem nie enden wollenden Drang nach Konsum, der sich verändern muss.

Kleidung wird getragen, um ersetzt zu werden. Solange diese Ansicht weiter als „Normalität“ gilt, müssen wir noch an so eiiinigen Schräubchen drehen. Denn auf der Welt existiert bereits mehr als genug. So viel, dass niemand überhaupt verzichten müsste. Stattdessen sind wir es, in unserem endlosen Hamsterrad, die die Produktion mit unseren Käufen ankurbeln und Trends immer schneller kommen und gehen lassen.

Luxus sollte nicht „viel“, sondern „bedeutsam“ sein

Kein Wunder also, dass die Textilbranche sich zu einer der schmutzigsten weltweit entwickelt hat. Abgase, Arbeitsbedingungen, Wasserverschmutzung, Pestizide. Jedes günstige Shirt hat seinen Preis. Und den sollten weder die Arbeiter*innen vor Ort zahlen müssen, noch die Niedrigverdienenden im reichen Europa, die nur so ihre Möglichkeit sehen, nicht ausgrenzt oder abgehängt zu werden.

Warum also nicht einen Schritt zurücktreten, durchatmen, sich neu aufstellen und Änderungen wirken lassen? Bewusstsein und Wertschätzung gemeinsam zum Trend machen. Nach 10 Tagen in 10 immer-gleichen Kleidungsstücken freue auch ich mich natürlich auf Abwechslung. Sehr sogar. Auf meine abgehalfterten Winter-Boots zum Beispiel. Und auf einen dickeren Pullover. Zwei einfache Dinge, die ich zu Recht vermissen kann. Weil Verzicht eben nicht gleich Verzicht ist. Und der Rest meiner Garderobe? Der hängt weiterhin auf der Stange. Nicht immer, aber meistens. Wie bei so vielen anderen eben auch. Weil ich niemals alles brauche, was ich da so besitze. Und schon gar nicht noch mehr, noch obendrauf.

Nur den Weg zur Bahn, den muss ich an Tag 11 auf einmal wieder rennen. Weil die Outfit-Wahl auf einmal wieder länger braucht. Was wirklich fehlt, sind nämlich diese 5 Minuten Zeit… von denen ich bisher noch nicht mal wusste, wie sehr ich sie zu schätzen weiß.

10 Tage, 10 Looks & (guess what) kein einziger schiefer Blick

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