Sylt, das 9€-Ticket, Chaos-Memes und Hate-Speech: Bitte lasst meine Heimat in Ruhe!

Autorin Claire über ihre Heimat und das Unverständnis und fehlende Gefühl Sylt gegenüber…

Jaaa, was haben wir gelacht. Immer noch bekomme und sehe ich Memes über die neu angesetzten „Chaostage“ auf Sylt diesen Sommer. Und weshalb? Wegen des 9€-Tickets. Wer es nicht mitbekommen hat: Durch mediale Schlagzeilen und diverse aufmerksamkeitsgeile Instagram-Könige ist meine Heimat Sylt über Nacht zum Ziel für die Chaoten unseres Landes geworden. Weshalb? Weil sie die Insel der „Reichen und Schönen“ (lol) zurückerobern möchten. Und dabei ist das seit dem 01. Juni gültige 9€-Ticket, mit dem einen Monat lang die meisten Nahverkehrsverbindungen genutzt werden können, doch eigentlich eine tolle Idee.

Endlich für weniger Geld etwas sehen, mal rauskommen, das Auto vielleicht stehenlassen. An sich super positiv. Doch was wäre die Welt ohne Menschen, die meinen, dass sie die einzigen mit Durchblick wären. Und so kommt es, dass halb Social Media TikToks, Stories, Kommentare und Beiträge macht, um jetzt mit dieser günstigen Möglichkeit die Insel der Schnösel – Sylt, meine Heimat – zu stürmen. Ich dachte nur: „Das muss ein Scherz sein.“

Zwar erzählte mir meine Mutter schon mehrmals am Telefon, dass sie versuchen würde, es locker zu nehmen, weil die letzten „Chaostage“ auch aushaltbar gewesen seien (gab’s wohl schon mal, das Spektakel), allerdings habe sie ja sowieso genug zu tun, würde den Strand im Sommer eh meiden und versuchen, dann morgens die Erste im Supermarkt zu sein. Es gibt übrigens sogar mehrere Facebook-Gruppen, die zu den Chaostagen aufrufen – es sind auch zwei Sylter-Bekannte von mir in diesen Gruppen, was ich schon wieder wirklich schwer nachvollziehen kann, aber okay. Durch das 9€-Ticket möchten Menschen es jetzt also endlich (!) mal zu den gaaaaanz schwer Reichen schaffen (wozu gefühlt niemand der Sylter:innen, die ich kenne, gehört) und… Und was? Ja, was wollen die eigentlich?

So geht Journalismus: Obwohl niemand etwas zum Einkommen der Touristen gesagt hat, wurden die Sylter:innen bei den Kolleg:innen als Kaviar-essende Champagnerschlucker beschrieben – und los ging die Hate-Speech-Lawine…

Wir haben es verstanden: Reiche sind blöd

Ich meine die Gedankengänge der linken Sylt-Hasser so verstanden zu haben: Reiche sind scheiße. Und die fahren gerne nach Sylt. Also ist Sylt scheiße. Und dann haben der Sylter Bürgermeister und andere Sprecher:innen vom Sylttourismus leider beispielsweise auch noch angedeutet, dass sie etwas Angst vor der Saison haben. Wegen des 9€-Tickets. Weil Sylt eh schon überfüllt ist und nun noch mehr Menschen kommen werden, die ja auch verpflegt werden sollen. Was aber die Antifa und seeehr viele Menschen im Internet wie folgt aufgenommen haben: DIE WOLLEN WOHL NUR REICHE DORT AUF SYLT! Das gibt’s doch nicht, diese hochnäsigen Pinkel! Aber so schnell dreht sich das Blatt, wenn die Antifa mal der BILD-Zeitung glaubt. Also, ab nach Sylt und mal richtig zeigen, wo der Hammer hängt und wie der Pöbel so tickt.

Klar finde ich es irgendwie auch super affig, die ganzen Instagram-Stories jetzt zu Pfingsten zu sehen. Die ganzen geknoteten Pullis über weißen Hemden, betrunkene Erwachsene, die völlig eklig und schleimig werden und ihre Kinder bis nachts um ein Uhr noch mit in den Dorfkrug in Kampen zwingen. Und die fand ich auch schon immer affig – das ist allerdings nur mein persönliches Empfinden und etwas, was mich triggert. Weil ich als Sylterin diesen Menschen schon immer Platz machen musste und wusste, dass es ihnen völlig egal ist, was Sylt eigentlich zu bieten hat und ausmacht. Völlig blind vor lauter Statussymbolik fahren sie auf diese wunderschöne Insel zu diesen sich krank schuftenden Menschen, um da das leichte Leben zu leben. Und das ist völlig verständlich – wofür sollte ich sie hassen? Dafür, dass sie die Angebote dort wahrnehmen und das Geld dafür haben? Nope. Ich verstehe es.

Und damit kommen wir auch direkt zum Punkt: Das, was ihr aber gerade in den Medien so sehr hasst, das sind Züge und Charaktereigenschaften anderer Tourist:innen, die mit euch zeitgleich auf Sylt Urlaub machen werden. Aus Hamburg, Berlin, München,… 19 Jahre lang habe ich dort gelebt, bin dort geboren, aufgewachsen, zur Schule gegangen, hatte meine ersten Hobbys, Freundschaften, Liebeskummer. DAS ist Sylt für mich. Strandtage am Wattenmeer mit meiner Familie, im Garten meiner Großeltern etwas über die Sylter Natur lernen. Unbeschwertes Rumtoben auf dem Schulweg, das nette Lächeln der Bäckerei-Verkäuferin bei uns an der Ecke und alle drei Meter ein „Moin“ – wie ein Dorf eben so funktioniert. Und wenn dann Ostern kam, gefolgt von Pfingsten, dann passte ich mich als Kind schon an. Ich wusste, dass die Touris Vorrang hatten. Ich wusste, dass ich morgens beim Bäcker wahrscheinlich vor lauter Stress nicht beachtet werden würde. Ich wusste auch, dass ich mich vor gelben Fahrrädern und betrunkenen Porsche-Fahrer:innen in Acht nehmen und schlecht gelaunten Softshelljacken-Familien um einen Platz im Kino prügeln müsste. Einmal wurde ich durch die gesperrte Straße vor unserer Haustür auf dem Gehweg von einem Range Rover mit 30 km/h überrascht. Ja, sowas kam vor und ich wuchs damit auf. Ich stand an zweiter Stelle, das wusste ich.

Das einzige, was ich als kleines Kind nie verstand, war, warum uns in diesen sieben Monaten Saison immer alle einen schönen Aufenthalt oder Resturlaub wünschten. Wir wohnten doch da. Es ist bis heute wie ein automatischer Vorgang bei allen Syltern und Sylterinnen, einfach einen schönen Urlaub zu wünschen, weil wir Jahr für Jahr ÜBERRANT werden. Und ganz ehrlich? JA, viele würden sich sicher freuen, wenn sich der Tourismus noch mehr nach Amrum, Föhr, Timmendorf, und Co. verteilen würde.

Nicht, weil wir es uns ja „leisten können“ oder undankbar sind, sondern weil mehr einfach nicht geht. ES GEHT NICHT NOCH MEHR. Einfach an Volumen. Der Platz ist ausgeschöpft. Die Natur ist erschöpft. Sylt ist erschöpft. Vom Luxus, von den Witzen, von dem Dünen-Getrampel, von der Beliebtheit. Und das ist Fakt. Fragt mich bitte nicht, warum all diese Massen dort gerne ihr Geld lassen wollen und woanders nicht. Wie ich bereits sagte: Sylt ist für mich etwas anderes. Nie im leben würde ich das Geld ausgeben, um mir dort ein Haus zu kaufen oder ähnliches. 

Wie, du bist auf Sylt aufgewachsen? Ach, da kann man wohnen?

Natürlich ist immer alles ganz, ganz toll. Oh, da hat ein neues Luxusresort aufgemacht. Und ohhh, da kann man sich ja das Leben kaum leisten, haha…

Ja, richtig. Seit Jahren ziehen immer mehr Menschen weg von Sylt. Die Geburtshilfe auf Sylt ist kaum noch vorhanden. Ein Angebot an Sport und Freizeit – kaum noch vorhanden. Es gibt dort so einen gigantischen Personalmangel, dass sogar Fremdfirmen jetzt Frauen aus der Ukraine kurzfristig zusammentrommeln und für einen unterirdischen Lohn unter der Hand schuften lassen. 300 Stunden bei Gosch arbeiten? Ist ja alles irgendwie Grauzone. Leute, da ist nichts mehr zu holen! Die Insel platzt! Natürlich ist es für einige super, wenn aus immer mehr Häusern Ferienwohnungen werden. Aber wer soll die denn reinigen? Du kannst als Putzhilfe Preise verlangen, wie du lustig bist. Wo sollen die Leute alle essen? Es ist mir wirklich völlig schleierhaft, wie das immer weiter vorangetrieben wird. Bezahlbare Clubs und Bars müssen schließen, da bleibt meinem jüngeren Bruder beispielsweise nur noch Kampen mit Longdrinks für 17€ (sprich keine Option), oder irgendein umfunktionierter Keller bei Freunden. Oder: Der Strand…

Hach, was ist der Strand schön. Eingequetscht wie die Sardinen direkt am Miramar Hauptstrand liegen, ab und zu mal ’ne Zigarette in den Sand werfen und abends die Strandkorbkreise nutzen, um sich mal schön einen reinzuorgeln. Und wer macht das weg? Keine Ahnung. Also ja, das, was ihr in den Kommentaren immer beschreibt, sprich die Gründe, die für euch gegen Sylt sprechen, die sehe ich auch. Die sieht jede:r Sylter:in. Die einzigen mit der rosaroten Brille sind andere Tourist:innen – die Sylt-Liebhabenden.

„Keine Sorge, ich will eh nicht auf eure scheiß Insel“, „Die denken wohl sie sind was Besseres“, oder auch „Die Pisser wollen wohl mit dem Pöbel nix zu tun haben – lass mal hin und denen richtig Angst machen“, das waren so Kommentare, die mir echt weh getan haben. Arschlöcher gibt’s wohl überall, was? Und dabei spielt es eben keine Rolle, wie viel Geld Menschen haben. Müll lassen alle liegen – Reiche, Arme, der Mittelstand. Und alle machen auf Sylt Urlaub, Reiche, mittelständische Familien, Schulklassen, Tagesausflügler:innen, alle. Also lasst mich bloß in Ruhe mit eurem komischen „Die wollen ja nur Reiche da haben, denen zeigen wir es jetzt“. Nein.

I tell you what we want!

Was wir auf Sylt wollen, sind Menschen, die Sylt respektieren und es lieben und sich dementsprechend verhalten. Meiner Mutter ist das sowas von egal, wie viel Geld ihr habt, wenn ihr euch im Hotel daneben benehmt. Es gibt genügend Reiche, die nie Trinkgeld geben, die sich völlig übergriffig und anmaßend aufführen. Diese Menschen gibt es in allen Gehaltsklassen. Aber eins weiß ich genau: Eine Gruppe von Menschen, die aus reiner Wut und Gehässigkeit in meine Heimat fahren, um dort noch mehr Stress zu verbreiten, noch mehr Arbeitsstunden, noch mehr Schlangen vor den Supermärkten und am Müll erstickende Möwen verursachen, die möchten wir dort nicht.

Glaubt ihr wirklich, dass es irgendwen von den reichen Hamburger:innen dort auf Sylt an Pfingsten juckt, dass ihr da seid? Ich denke mal eher nicht. Weil ihr aus lauter Trotz wohl kaum 90€ für einen Autozug oder 20€ für eine Taxistrecke bezahlen werdet. Natürlich könnt ihr gucken, ob euch einer unserer herzlichen Busfahrer:innen trotz Rumgepöbel und Respektlosigkeit mitnimmt. Bis ihr aber an der Sansibar oder im Pony Club seid, sind die Getränke dort schon leer und die Currywurst gegessen. Die einzigen, denen ihr „es mal so richtig zeigt“, das sind die Arbeitenden in Westerland und ganz normale andere Touris, die sich in Ruhe mit ihren kleinen Kindern ein Eis in der Friedrichstraße kaufen möchten.

Spart euch eure Energie doch lieber für etwas Sinnvolles: für die Umwelt, einen netten Umgang mit anderen Menschen, weniger prinzipiengesteuerten Hass. Wenn die Leute ein großes, teures Auto fahren, lasst sie doch. Wenn sie Steak für 120€ essen wollen, lasst sie doch. Man kann sich darüber austauschen und versuchen, die gegnerische Seite zu verstehen, ja. Hass, nein. Auch für euch wäre ein Urlaub oder Tagestrip dort möglich. Es geht auch günstiger – man muss nicht reich sein, um mal nach Sylt zu fahren. Aber dann kommt doch bitte auch nur aus positivem Interesse dorthin – und nicht aus Hass. Nutzt dafür nicht das 9€-Ticket, sondern fahrt an Orte, die ihr wirklich mögt. Das hat die Insel mit ihrer Natur nicht verdient und das hat auch meine Mutter nicht verdient, die mit 60 Jahren immer noch eine 10-Tage-Woche hat während der Saison.

Lasst meine Heimat bitte mit dieser Energie in Ruhe. Ich hatte dort die schönste Kindheit. Meine Heimat ist nicht „scheiße“. Meine Heimat ist Sylt. Natur. Meine Heimat ist großartig und wertvoll und mit Respekt zu behandeln, so wie jeder andere Ort und Mensch auf der Welt auch. Egal, ob ihr mit dem Auto kommt und Tausende Euro ausgeben wollt, oder mit dem 9€-Ticket nach Sylt fahrt und euch zwei schöne Low-Budget-Tage macht: Ihr seid herzlich willkommen, wenn ihr herzlich seid. 🤍

Credits: Privat

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