Das bestätigt mir auch Beziehungs- und Liebeskummer-Coach Daniela van Santen. In ihrer „Liebeskummerpraxis“ berät die Hamburgerin Klienten, denen es schwerfällt, loszulassen. „Gute Erinnerungen sind enorm wichtig, wenn es um das seelische Gleichgewicht eines Menschen geht“, erklärt sie mir. Gute Erinnerungen werden deshalb von uns festgehalten und können so auch Jahre später noch euphorische Gefühle hervorrufen. Wenn wir uns heute an unseren ‚Almost Lover‘ erinnern, rufen wir uns also gewissermaßen die Gefühle der ersten Verliebtheitsphase von damals ins Gedächtnis und vergessen dabei all die weniger schönen Momente. Es geht aber sogar noch weiter: „Wenn wir uns an sehr intensive Erlebnisse erinnern, ist es unerheblich, ob die Erinnerung, die abgespeichert wurde, sich tatsächlich genau so zugetragen hat“, sagt Beziehungscoach van Santen. Es kann also sehr gut sein, dass uns, wenn wir verliebt lächelnd an unseren ‚Almost Lover‘ zurückdenken, uns das Gedächtnis einen Streich spielt. Das darf es auch ruhig, denn solche Verklärungen der Vergangenheit helfen uns Menschen letztendlich dabei psychisch gesund zu bleiben, indem sie positive Erinnerungen in die Gegenwart ‚zaubern‘.
Das wohl bekannteste Beispiel solcher trügerischen positiven Erinnerungen hat mich während meines Französischstudiums gequält: Marcel Prousts „Un amour de Swann“. In dem Roman verliebt sich der Protagonist in seine Freundin Odette, weil er ihr Gesicht mit einem Gemälde assoziiert und ihn Begegnungen mit ihr an eine Sonate erinnern. Klingt abgefahren, aber im Prinzip beschreibt Proust hier nur, was wir davon halten sollten, wenn wir in schwachen Momenten an unsere offenen Baustellen denken: Es sind nicht die Menschen, in die wir verliebt sind, sondern die Gefühle, die sie mal in uns hervorgerufen haben. „Auffällig ist doch, dass nur in besonderen Situationen – beispielsweise, wenn es in der aktuellen Beziehung Streit gibt, man sich als Single einsam fühlt, man vielleicht ein Glas zu viel getrunken hat – diese Menschen wieder erinnert werden“, bestätigt Daniela van Santen.
Bei Proust endet die „Liebe“ zu Odette natürlich – wie sollte es auch anders sein – unglücklich, denn kaum ist sein Protagonist mit ihr zusammen, bemerkt er auch schon, dass die reale Odette seiner Fantasie von ihr in der Realität nicht standhalten kann. Da ist es dann vielleicht doch schlauer, schwärmerisch an unsere offenen Baustellen zurückzudenken und sich so von den wirklich schlimmen Problemen des Lebens abzulenken, ganz getreu dem Motto: „Hello, Almost Lover. Es ist okay, dass du hier bist.“