Deep Talk mit Bill Kaulitz: „In manchen Momenten bringe ich wenig Selbstliebe für mich auf“

Shiro Gutzie; Instagram/ billkaulitz

Interview/ Text: Edith Löhle

Sex, Drugs & Tokio Hotel – so könnte manch einer die Autobiografie von Bill Kaulitz (31) zusammenfassen. Aber das wäre zu billig für „Career Suicide“, denn der Künstler hat da 30 Jahre (wenn auch im Schnelldurchlauf) zu Papier gebracht.

Ehrlich, wenn nicht sogar schonungslos, lässt er uns an seinem verrückten Leben zwischen Loitsche (nördlich von Magdeburg) und Los Angeles teilhaben: Zum ersten Mal erfahren wir von den armen Verhältnissen, in denen Deutschlands berühmteste Zwillinge groß geworden sind, zum ersten Mal reflektiert Bill so freiheraus über die Highs and Lows des Erwachsenwerdens im Blitzlichtgewitter, zum ersten Mal spricht er so offen über seine freie Sexualität – das Thema, über das seit Jahren spekuliert wird.

Why the fuck? Muss man denn alles in Schubladen stecken? Nö! Aber das soll er mal schön selbst erklären… 👇

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trèsCLICK: Du schreibst in deinem Buch von Sex mit Frauen und Männern. Damit ist doch eigentlich alles geklärt. Ich wette, du wirst aber trotzdem in den Interviews noch zu deinem Sexleben gefragt und musst dich erklären, oder?

Bill Kaulitz: Oh ja! Das Thema Sexualität wird viel behandelt, so viele Fragen zu meinem Verhältnis zu Männern und Frauen. Das überrascht mich aber nicht… Einer hat mich auch gefragt, wie denn jetzt das Arschloch hieße, das mir das Herz gebrochen hat? (lacht) Wenn ich das hätte sagen wollen, dann hätte ich es auch geschrieben.

Und du bist in deiner Biografie schon sehr explizit. Wie wichtig ist dir die direkte und derbe Sprache?

Sehr wichtig. Ich wollte einfach so sprechen und ehrlich sein, wie, wenn ich’s meinem besten Kumpel betrunken an der Bar erzähle, ohne zurückzuhalten. Wenn du weißt, du wirst nicht gejudged, wenn es bisschen drüber, krass und übermalt ist.

Auffallend sind eh die vielen Sex-Methapern, die sich durch das ganze Buch ziehen…

Mir ist das auch erst beim Schreiben aufgefallen. Ich habe mir vorher nicht überlegt, da ganz viel Sex reinzuknallen. Das ist einfach passiert. Meine Freundin Dunja, die mich beim Schreibprozess begleitet hat, hat mich nach jedem Kapitel gefühlt angerufen und gefragt: ‚Sag mal, wie sexualisiert seid ihr denn aufgewachsen? Das ist ja crazy, wieviel das stattgefunden hat.‘

Ich fand lustig, dass du das Bild „in den Arsch gefickt“ immer wieder verwendest und umgangssprachlich als etwas Negatives verwendest. Dabei ist das für viele ja was Tolles. :-)

(lacht) Das stimmt. Es ist lustig, dass ich da dieses Bild als drastisches Stilmittel verwende, weil man das so sagt. Ja, aber natürlich kann das auch was Tolles sein.

Du schließt deine Autobiografie mit regelrechten Liebeserklärungen an Mama, an Tom, an euren besten Freund Gühne und Heidi. Wie sind denn die Reaktionen von den Menschen, die dir wichtig sind?

Tom hat das Buch noch nicht im Ganzen gelesen. Er musste seine Passagen freigeben und er hat bis zum letzten Moment gewartet, weil er so lesefaul ist. Er hat dann kurz vor knapp gelesen und mich gefragt: ‚Uh, willst das wirklich so schreiben?‘ Er ist mindestens genauso aufgeregt wie ich, für ihn ist es wahnsinnig intim, denn ich erzähle ja unsere Geschichte und ja, hier und da dachte er dann wohl schon ‚Das hätte ich jetzt nicht so über mich preisgegeben, hätte ich es geschrieben‘, aber es war okay für ihn und er hat mich nicht aufgefordert, etwas zu ändern. Er meinte: ‚Wenn du es so machen willst, dann mach es so‘. Meine Mama hat geheult, hat es aber geliebt und meinte, sie war noch nie zuvor so stolz auf mich. Es war schon hart hier und da für sie. Ich meine, wir hatten schon immer ein ganz enges Verhältnis und wenn du dann von deinem Kind so Sachen liest, die du noch nicht wusstest, dann ist es schon manchmal befremdlich. Ich kann aber voller Stolz sagen, dass meine engsten Leute das Buch alle lieben. Mein bester Freund Gühne ist der Allersüßeste, der ruft mich gerade jeden Tag deswegen an, er ist so gerührt und musste auch weinen.

Und was hat Heidi gesagt?

Sie findet es krass und mutig! Sie sagte: ‚Wow, ich bewundere was du da schreibst. Ich könnte so ein Buch nicht schreiben.‘ Sie unterstützen mich alle total und ich glaube, Heidi ist schon auch aufgeregt mit Tom zusammen.

Was weißt du heute über dich, was du vor dem Buch noch nicht wusstest?

Das ist eine gute Frage. Mir wurde bewusster, wie sehr alte Geister und Kindheitserfahrungen einen doch fürs ganze Leben prägen. Ich empfand das vor dem Buch bei vielen Leuten immer so ein bisschen als faule Ausrede. Es gibt ja so viele Leute, die ihrer Kindheit die Schuld an allem geben. Da dachte ich mir schon manchmal: Halt mal, du bist als erwachsener Mensch im Jetzt und kannst ja im Jetzt deine Entscheidungen treffen. Ich hatte große Angst vor dem Schreiben, weil ich dachte, dass ich ganz viele Sachen nicht mehr weiß. Anfangs befürchtete ich, das Buch nicht gefüllt zu bekommen und dann habe ich aber ganz schnell beim Verlag angerufen und nach mehr Platz, mehr Seiten gefragt. Mir sind immer mehr Details eingefallen und ich finde es rückblickend schon heftig, wie viel hängengeblieben ist und doch auch noch Teile von mir sind. Man hat so kleine Ticks, die man nicht los wird. Ich kann zum Beispiel viele Dinge anders wertschätzen, weil ich weiß, wie es ist, wenn du nichts hast. Man vergisst das einfach nicht, man hat das schon im Herzen.

» In manchen Momenten bringe ich wenig Selbstliebe für mich auf" «
Bill Kaulitz

Hast du auch einen spirituellen Zugang zu dir gesucht? Du schreibst, dass das Buch deine Therapie ist und ich weiß, du hast eine Astrologin. Aber hast du sonst noch was unternommen – vielleicht ein crazy Ayahuasca-Trip – um mehr in dein Unterbewusstsein zu steigen?

Ich müsste mich viel mehr mit mir auseinandersetzen. Ich habe eine furchtbar arrogante Meinung dazu, die alle hassen, wenn ich sie ausspreche: Ich kenne meine Probleme, ich brauche nicht, dass jemand sie mir auch noch erzählt. Ich hatte keine Vaterfigur, mit der ich mich hingesetzt und meine Probleme ausgeschüttet habe – ich kenne das nur so, dass ich meine Probleme mit mir selbst ausmache. Und dennoch mache ich es zu wenig, deshalb hatte ich auch diese toxische Beziehung, weil ich in manchen Momenten wenig Selbstliebe für mich aufbringe. Und das ist dann schon ungesund. Vielleicht sollte ich mehr solche Sachen ausprobieren. Ich bewundere Leute, die meditieren und sich Zeit für sich nehmen. Ich bin immer so hektisch, die Karriere stets an erster Stelle.

Vor allem ist Los Angeles ja ein spiritueller Supermarkt. Du lebst ja im Trend-Hotspot für Esoterik…

Total. Ich war mal mit Freunden bei so einer Schamanin, die eine bestimmte Art von Yoga anbietet. Alle meinten, Demi Moore gehe da hin und ich müsse das mal ausprobieren. Sie hatte einen Turban auf und saß vor der Gruppe. Und ich – noch nie zuvor beim Yoga gewesen – gleich mitten in so einer krasser Session, mit so komischen Posen, Verrenkungen und gemeinsamen Chanten. Ich habe sofort Beklemmung bekommen, weil ich einfach diese Klassensituationen so schlimm finde. Ich fühlte mich wie im Mathe-Unterricht und wollte mittendrin am liebsten rausgehen. Ich hasste es!

Du hast dir zum Schulabschluss eine Luxus-Uhr gegönnt und dich immer wieder mal selbst beschenkt, wenn du was erreicht hast, was du dir vorgenommen hast. Angenommen dein Buch schafft die Nummer Eins auf der Bestseller-Liste, was gönnst du dir?

(lacht) Nichts Konkretes ehrlich gesagt. Ich hätte gern eine fette Buch-Release- Party gemacht, die so richtig wild wird. Erst so gediegen mit meinen besten Freunden und ein paar von der Presse, die man dann irgendwann rausschmeißt, wenn zu heiß wird. In einem dekadenten Penthouse, das fänd’ ich geil. Aber da macht Corona halt den Strich durch die Rechnung.

Wirst du denn den Release-Tag wenigstens privat feiern?

Ich werde am Montag mit Tom und Heidi anstoßen, ansonsten darf ich ja niemanden treffen, deshalb werde ich vielleicht ein paar Leute anrufen und mich allein abschießen.

Macht Bill Kaulitz eigentlich Zoom-Partys?

Nein, das verstehe ich gar nicht! Dann sind da so viele, dass man sich eh nicht unterhalten kann und dann die Technik! Ich mag ja Partys, weil man sich da unterhalten kann. Wahrscheinlich bin ich da bisschen old-school. Wenn, rufe ich eine Person über Face-Time an.

Liest du die Rezensionen zur Buchveröffentlichung?

Nach einer, die ich jetzt gelesen habe, dachte ich, lese ich die anderen lieber nicht. (lacht) Das ist jetzt schon viel intimer. Normalerweise ziehe ich mir Kritiken nicht wirklich rein, ich bin auch niemand, der sich auf Instagram wahnsinnig viel durchliest und guckt, wie ich ankomme. Aber das Buch fühlt sich an wie 400 private Songs auf einmal, deshalb muss ich zugeben: Es interessiert mich schon, wie das Feedback ist.

Du benennst in „Career Suicide“ auch rückblickend Fehler. Gibt es die denn überhaupt?

Klar, wir haben Fehler gemacht. Aber wenn ich jetzt einen Knopf hätte, der mich in die Vergangenheit bringt und mein Leben bis hier her wäre jetzt ausradiert und ich könnte nochmal ganz neu überlegen: Ich würde nichts grundsätzlich anders machen. Natürlich gab es einige Umwege und es war hier und da hart und schwer, so wie es bei allen im Leben ist, aber rückblickend kann ich sagen: Ich habe immer genau das bekommen, was ich wollte und wie ich mir das immer erträumt habe. Und die Geschichte wie sie anfing, mit diesem Song in den Sommerferien und dann zurückkommen in die Schule: Als ich das aufgeschrieben habe, kam es mir selbst unrealistisch vor, das klingt ja wie so ein Fairy Taile und manchmal kann ich selber gar nicht glauben, dass mir das passiert ist.

» Kein Leben kann geradlinig und perfekt verlaufen, das wäre ja auch so langweilig. «
Bill Kaulitz

Jeder Schritt führte zum nächsten. Und deshalb sagen die alten Weisen ja, dass es keine Fehler gibt…

So ein paar Leute hätte ich nicht unbedingt in mein Leben lassen müssen. Aber es ist genau das, was du sagst: Alles bringt dich weiter. Und kein Leben kann geradlinig und perfekt verlaufen, das wäre ja auch so langweilig.

Und dein Leben ist alles andere als langweilig – also wie sieht es aus mit einer Verfilmung?

Das müssten wir mal die richtigen Leute fragen (lacht). Ich fänd’ es geil, wenn mein Leben verfilmt wird. Jemand meinte auch schon, dass wäre eine super Serie. Konkrete Pläne gibt es aber noch nicht. Ich bin erstmal froh, jetzt dieses Buch tatsächlich in den Händen zu halten, denn ich habe bis zur letzten Sekunde geschrieben. Als Nächstes gibt es dann eine englische Version und wir überlegen, einen Podcast dazu zu machen…

Meinst du, der beruflichen Selbstmord – wie im Titel angekündigt – passiert?

Ich glaube schon, dass ich mir nicht nur Freunde mache. Das wird hier und da auch nochmal nachschallen und bisschen knallen. Da werden ganz viele gepisst sein und ich weiß auch, dass es ein Risiko ist für mich ist, so ein Buch zu schreiben. Der ein oder andere denkt sicher: ‚Lieber nicht mit Bill Kaulitz zusammenarbeiten, nicht dass wir uns in Buch Nr. 2 wiederfinden.‘ Es ist ein Risiko als Künstler, der aktiv ist und arbeitet, denn da sitzen teilweise ja noch die gleichen Leute auf dem Stuhl im Musikbusiness. Für meine Musikkarriere ist dieses Buch bestimmt nicht das Allercleverste. Es gibt einfach da ein paar Menschen, die haben so große Egos, da hätte ich am liebsten eine versteckte Kamera! Die nimmt dann die Leute auf, wenn sie mein Buch lesen und sich wieder erkennen. (lacht)

Und das bauen wir dann in die Serie ein…

(lacht) genau!

Gab es auch Passagen, die nicht im Buch gelandet sind, weil sie nicht freigegeben wurden?

Mein leiblicher Vater war in der Originalfassung viel mehr Thema und der kommt jetzt kaum noch vor. Aber ich habe einfach keinen Kontakt zu ihm, ich wusste, er würde das nicht freigeben und von daher musste ich auf ihn zum Beispiel verzichten. Ja, es gibt schon ein paar Menschen, wo ich dachte, über die darf ich nicht schreiben, über die kann ich nicht schreiben. Aber ich habe alle Geschichten gerettet, bei denen ich dachte, die muss man erzählen – dann eben anders. Wir haben ja auch viele Namen geändert.

Zum Schluss: Wenn du heute so in dich reinhörst, welche Message möchte da raus?

Viele nehmen gerade eine dunkle Zeit wahr, eine Zeit der Verunsicherung durch Corona, es gibt viel Negativität und Hass – und dennoch appelliere ich, zu versuchen, sich immer was Positives rauszuziehen. Ich habe das immer so gemacht und das hat mir geholfen weiterzumachen: Dieser krasse Hass, der mir entgegenkam, war gut, denn ich habe das als Kompliment wahrgenommen. Man muss die guten und die schlechten Seiten umarmen.

Bill Kaulitz und Edith Löhle im Zoom-Talk 🙃

Credits: Shiro Gutzie, Instagram/ billkaulitz

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