Wie ich gemerkt habe, dass ich demisexuell bin und was das mit mir gemacht hat

Bis zum August 2020 hätte ich mich selbst noch ganz klar als heterosexuell bezeichnet. Nicht mehr, nicht weniger (die „harmlosen“ Küsse mit Freundinnen auf Partys mal ausgenommen). Dass Sexualität eigentlich aber so viel komplexer ist als das, was wir damals im Biologieunterricht gelernt haben, ist mir zwar schon länger bewusst, doch bis dato hatte ich mich selbst nicht wirklich mit meiner wahrhaftigen, sexuellen Orientierung beschäftigt.

BIS DATO! Eine sehr intensive, emotionale und schnell stärker werdende Beziehung zu einer Freundin hat mir gezeigt, dass ich selbst bei Frauen ein bestimmtes Muster habe und auch eigentlich schon immer hatte. Ich öffne mich tendenziell schnell bei Personen, die dasselbe mir gegenüber tun. Wir werden dann direkt sehr persönlich, fühlen uns bestenfalls verstanden und zack, knistert es irgendwie. Und das passiert bei mir ganz unabhängig vom Geschlecht. In der Vergangenheit habe ich das bei Girls aber eben nur als enge Freundschaft bezeichnet. Mit Männern, bei denen ich diese intensive Verbindung spürte, ging es meistens übers Platonische hinaus. Oder eben auch nicht, wenn keine Connection bei diesen Boys aufkam. Als ich aber im besagten Sommer plötzlich zum ersten Mal das Knistern zwischen dieser Freundin und mir spürte, durch Streicheln, tolle Gespräche und gegenseitige Anteilnahme, fing ich an, mich und meine sexuelle Orientierung zu hinterfragen. 

Meine Erkenntnis: Ich bin nicht unbedingt auf ein bestimmtes Geschlecht fixiert, sondern auf die Energie und den Vibe, die ich bei Personen spüre. One-Night-Stands, Rummachen, Sex mit Fremden oder mit Personen, bei denen ich absolut keine Connection spüre? No way! Nicht, weil ich sie – mal ganz oberflächlich betrachtet – nicht attraktiv finde, sondern weil ich aufgrund der fehlenden Vibes keine sexuelle Anziehung spüre. Und das ist laut Definition eben demisexuell zu sein. „Demisexualität“ wurde 2006 erstmalig von einem Mitglied der „Asexuell Visibility and Education Network (AVEN)“ benutzt und beschreibt die Erfahrung, sich nur sexuell angezogen zu fühlen, wenn eine emotionale Verbindung zur anderen Person aufgebaut werden kann oder besteht. (Wer mehr Infos dazu braucht, kann hier klicken). Der Begriff fand direkt bei vielen AVEN-Mitgliedern Zuspruch, gewann schnell an Bedeutung im Netz (2010 wurde sogar eine spezielle Flagge dafür kreiert) und seit einem Jahr nun eben auch in meiner persönlichen Bubble.

Ich bin mit kontroversen Meinungen zur sexuellen Auslebung der Frau aufgewachsen. Und als solche wird man doch gerne mal in zwei Schubladen gesteckt, oder? Entweder ist man das Mäuschen, das sich mit allem Zeit lassen und sich für „den Richtigen“ aufsparen will (was dann gerne mal als „prüde“ abgestempelt wird), oder man ist die wilde, gefühlskalte Sexgöttin, die nichts anbrennen lässt und einen ONS nach dem nächsten hat. Aber mal ehrlich, das sind doch ziemlich enge Schubladen, in die ich mit meiner Sexualität schon mal gar nicht zu passen scheine. Versteht mich nicht falsch, ich feiere es, dass uns heute der Weg geebnet ist, unsere sexuelle Freiheit auszuleben. Was mich an der Sache allerdings stört, ist, dass die beschriebene „Sexgöttin“ eben super gerne auch direkt als starke, unabhängige Frau dargestellt und angesehen wird. Eben weil sie ihre Sexualität so frei und unbefangen auslebt. Und Frauen, die das nicht können, sind eben schnell nur die „zu emotionalen, prüden Mäuschen“. Ich möchte allerdings in keine Schublade davon gesteckt werden. Vor allem auch, weil ich mich generell sehr schwer mit solchen Schubladen tue. Denn ich bin der Meinung, dass alles sehr viel dynamischer ist und es eben nicht nur Schwarz und Weiß gibt – gerade auch im Bezug auf Sex. Früher dachte ich tatsächlich, dass etwas mit mir nicht stimmt. Warum konnten manche Girls mit völlig Unbekannten von der Party nach Hause gehen oder nach schlechten Tinder-Dates trotzdem mit ihrem Gegenüber schlafen und ich nicht? Ich ließ mich tatsächlich mal von einem Typen nach einem Date küssen, bei dem ich absolut keine Anziehung spürte. (Er war attraktiv, ja, aber die emotionale Connection fehlte einfach.) Danach fühlte ich mich ziemlich beschissen, irgendwie benutzt und von mir selbst verraten. Doch anstatt es einfach zu akzeptieren, dass ich diese emotionale Verbindung nun mal brauche, zwang ich mich weiterhin zu mehr. „Du musst es nur öfter machen, dann gewöhnst du dich daran und dann wird es dir schon irgendwann gefallen“, sagte ich zu mir. Ich wollte unbedingt im Club der „starken Sexgöttinnen“ sein. 

Und nicht nur in meinem Umfeld wurde mir dieses Bild vermittelt, sondern auch in diversen Serien. Allen voran „Sex and the City.“ Dort werden beide Extreme durch Samantha und Charlotte verkörpert. Samantha ist die starke, beruflich erfolgreiche, unabhängige Frau, die ständig Sex mit diversen Männern hat, ohne dabei (zumindest anfangs) Gefühle zu benötigen. Charlotte ist zwar auch beruflich erfolgreich, doch stellt aufgrund der Tatsache, nicht sofort und mit irgendjemandem schlafen zu wollen, das unerfahrene, prüde Mäuschen dar. Um es mal ganz grob zu beschreiben.

Für mich waren das große Vorbilder, die mir zeigten, wie stark, unabhängig und selbstbestimmt Frauen sein können. Und ich lebe es genau so in fast all meinen Lebensbereichen aus. Doch mit dem unbefangenen Sex tue ich mich bis heute schwer. Genauso wie mit der Kategorisierung des prüden Mäuschens. Denn ich bin weder das eine noch das andere. Und überhaupt, warum muss es denn nur diese zwei Ansichten geben? Der Grund, warum ich nicht in eine dieser Schubladen gesteckt werden will, liegt übrigens weniger darin, was andere von mir halten, sondern viel mehr, was ich selbst von mir halten soll, um mich zu verstehen. Damit ich meine persönliche Stärke finde und es nicht mehr zum „Selbstbetrug“ kommt, wie nach dem ungewollten Kuss.

Und ich denke, damit bin ich nicht alleine. Zumindest spricht die Anzahl der Postings unter dem Hashtag #demisexuell auf Instagram mit über 2 Mio. dafür. Und auch bei Gesprächen mit meinen Freund:innen zeigte sich, dass sich unter ihnen einige lange etwas vormachten und ebenfalls diesen Selbstbetrug kannten. Dass sich immer mehr Leute als demisexuell anerkennen, liegt natürlich auch daran, dass wir heute viel mehr über unsere Sexualität reden als noch vor 10 oder 20 Jahren. Wir beschäftigen uns früh mit all diesen Themen und versuchen, unsere sexuelle Identität zu finden. So wie ich meine „alten Denkmuster“ in diesem Bereich überdachte. Nicht nur aufgrund der (zum Glück) öffentlichen Freiheit der Thematik, sondern auch aufgrund dieser einen Erfahrung. Dem Moment, als ich diese besonderen Vibes zum ersten Mal mit dieser einen Freundin hinterfragte. Das half mir, die bestehende Schublade, in die ich mich selbst aus Unwissenheit und dem Bedürfnis, „stark und unabhängig“ sein zu wollen, steckte, hinter mir zu lassen.

Ich erkannte zum ersten Mal auch für mich, dass es eben nicht nur Schwarz und Weiß gibt. Dass man stark und unabhängig sein kann, auch wenn man Sex vielleicht nicht so frei wie andere ausleben kann und will und erst eine emotionale Verbindung braucht. Der toxische Gedanke, der nämlich hinter diesem vermeintlichen „Sex ohne Emotionen“ steht, ist, dass Emotionen uns generell schwach wirken lassen. Und wisst ihr was? Das tun sie nicht. Sie machen uns nur schwach, wenn man sie nicht zulässt. Zeigt es nicht von wahrer Stärke, wenn man seine Emotionen zulässt und sie regulieren kann? (Worin ich, btw, auch definitiv noch kein Pro bin.)

Aber jetzt kann ich sagen, dass ich meine ganz persönliche Grauzone gefunden habe. In der ich mich stark und sicher fühle. Und dass ich aufgehört habe, dagegen anzukämpfen und mich selbst zu Dingen zu zwingen, die ich nicht will. Was ich damit eigentlich sagen will, ist, dass man sich nicht von den bestehenden Mustern unter Druck setzen lassen muss. So wie ich damals. Ich dachte, dass eben nur diese Frauen, die unbefangenen Sex haben können, starke Frauen sind. Doch der Fakt, demisexuell zu sein, half mir dabei, zu verstehen, dass Stärke nicht auf vermeintlicher „Gefühllosigkeit“ beruht, sondern darauf, seine Grenzen zu kennen und zu setzen. Ich bin also eine starke, emotionale Frau, die zu ihren Gefühlen steht und das ist auch gut so.

Credits: Privat

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