TC: Experten zufolge sind Menschen, die schon einmal unter einer Essstörung gelitten haben oder eine ungesunde Beziehung zu Essen ausleben, derzeit besonders gefährdet. Haben Sie in Ihrer Praxis einen Zuwachs an Patienten seit Beginn der Corona-Krise erlebt? Wenn ja, in welchem Ausmaß?
Daniela Laubinger: Ich hatte nach meiner Geschäftsreise erstmal mein Team und mich ins Home Office geschickt. Da wir viele Kunden aus ganz Deutschland und auch international haben, führen wir sowieso einen großen Teil der Gespräche telefonisch oder per Skype, somit war es gut machbar. Einen Zuwachs an Patienten mit manifesten Essstörungen konnten wir zum Glück nicht verzeichnen. Aber sehr viele Anfragen von Patienten, die völlig verunsichert waren, wie sie sich nun richtig ernähren sollten. Viele waren schlicht an ihre Grenzen gebracht.
Aus Partnerpraxen, die verstärkt mit Patienten, die mit Essstörungen wie Anorexie, Bulimie, etc. zu kämpfen haben, hörte ich, dass zu Beginn weniger Anfragen kamen. Allerdings ist dort die Nachfrage von o.g. Patienten seit 2 Wochen stark erhöht.
Insbesondere die Mütter und Väter von einem der mehreren Kindern waren gestresst von der Ohnmacht der Gesamtsituation. Vollzeit im Home Office und „nebenbei“ ein oder mehrere Kinder verschiedener Altersklassen zu beschulen/ zu betreuen, ist kaum machbar. In welcher Form wird dann belohnt oder kompensiert? In Form von schnell verfügbaren Kohlenhydraten (Nudeln, Pizza, Süsses), die einem kurzzeitig Freude, aber dann auch direkt ein schlechtes Gewissen erzeugen. Das obligatorische Glas Wein zum „runterkommen“ gab dann immer öfter dazu. Wir haben dann versucht gute Alternativen aufzuzeigen. Aber auch Verständnis für sich selbst aufzubringen, wenn man doch in alte Muster zurückfällt. Diese aber zu erkennen und gegenzusteuern, ist der erste richtige Schritt, um sein Essverhalten zu erkennen und zu ändern.
TC: Gerade im Bezug auf Bulimie und die Binge-Eating-Störung: Wenn mehr Essen durch Hamsterkäufe im Haus ist, ist auch das Risiko des Überessens größer, einfach, weil es da ist?
Daniela Laubinger: Die Versuchung ist sicher größer, wenn mehr als nötig Essen zuhause ist. Getriggert von den uns unbekannten Umständen der Corona-Krise kam es ja zu Beginn besonders zu angstbedingten Hamsterkäufen. Man hat insbesondere länger haltbare Nahrungsmittel wie Nudeln, Reis, Milchreis, Fertiggerichte und Eintöpfe in größerer Menge eingekauft. Das sind starke Kohlenhydrat- und Fettlieferanten. Das birgt zwei Folgeprobleme:
Erstens: Man wird verführt Nahrungsmittel zu essen, die man normalerweise nicht isst, aber nun sind sie nunmal da. Jeder Zweite schleicht im Lockdown 3x öfter zum Kühlschrank als normal und das nicht, weil man hungrig ist, sondern Langeweile hat. Zweitens fördert das Überangebot im heimischen Kühlschrank bzw. der Speisekammer den Heißhunger auf mehr.
Wichtiger ist natürlich die vorhandene psychische Stabilität. Wer seine Bulimie oder Binge-Eeating bereits verhaltens- oder psychotherapeutisch hat behandelt lassen und Strategien erlernt hat, damit umzugehen, ist sicher stabiler, als jemand, der sich noch inmitten dieses Prozesses befindet. Wichtig ist, sich dann sofort Hilfe zu holen.
TC: Wie wirken sich Die Lebensmittelrationierung und Kalorienrestriktion auf die Psyche im Bezug auf Magersucht aus?
Daniela Laubinger: Durch Restriktion und Rationalisierung kann eine Magersucht sehr gefördert werden. Die Psyche, die sich sowieso schon im seelischen Ausnahmezustand befindet, wird dadurch getriggert Nahrungsmengen noch stärker zu reduzieren, um Reserven zu haben, falls es plötzlich kein Essen mehr gibt. Der dadurch entstehende Mangel an Eiweissen, Kohlenhydraten und Fetten, aber auch wichtigen Vitaminen sowie Mineralien kann dann lebensbedrohliche Konsequenzen haben.