Wie Essstörungen und Bodyshaming durch die eigene Familie zusammenhängen – laut Psychologin!

Hinweis: Dieser Artikel hat lediglich eine journalistisch-aufklärende und informativ-unterstützende Funktion. Informationen und Hilfe findet ihr zum Beispiel beim Psychotherapie-Informationsdienst (PID) des Berufsverbandes Deutscher Psychologinnen und Psychologen e.V. (BDP), auf www.bundesfachverbandessstoerungen.de oder auf der Internetseite www.bzga-essstoerungen.de von der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung.

Es sind einige Wochen vergangen, seitdem ich Deutschlands Curvy-Bombshell Angelina Kirsch (32) zusammen mit ihrer Mutter Gudrun in einem RTL-Fernsehinterview (hier) gesehen habe. Darin spricht die 32-Jährige über ein Erlebnis, das sie bis heute nachhaltig geprägt hat. Als sie sechs Jahre alt war, bezeichnete ihre Oma ihre Zwillingsschwester und sie mit den Worten „Mädels, ihr seid zu dick“. Ein kleiner Satz, der jedoch große Auswirkungen hatte. Denn Angelina fing daraufhin schon als kleines Kind an, das Essen zu verweigern, um ihrer Oma zu gefallen. Und dieses Verhalten zog sich bis ins Teenager-Alter. „In meiner Pubertät hat mich das später verunsichert, zu wissen, Oma findet mich eigentlich zu dick“, so das Model. Heute gibt Angelina dem damaligen Verhalten ihrer Oma ganz klar eine Mitschuld daran, dass sie daraufhin viele Jahre lang mit einem gestörtem Essverhalten zu kämpfen hatte. 

Eine Aussage, die mich bis heute nicht losgelassen hat. Denn können Kommentare aus unserer Familie (also von Menschen, von denen wir eigentlich wissen, dass sie uns lieben) tatsächlich solche gravierenden Auswirkungen auf das eigene Selbstwertgefühl haben? Oder gar eine Essstörung auslösen? So, wie es bei Angelina offenbar der Fall war?

Ihr Interview hat mich definitiv dazu bewegt, mich intensiver mit dieser Thematik zu beschäftigen. Sicherlich auch aus dem Grund, da ich selbst eine ganze Zeit lang großen Struggle mit meinem Körper hatte. Denn wer regelmäßig meine Artikel liest, weiß, dass auch ich meine Schwierigkeiten mit einer gesunden Beziehung zum Essen hatte. Ich weiß, wie unangenehm einnehmend, omnipräsent und ungesund sich eine Verhaltensstörung zu Essen anfühlen kann. Der Umgang mit Nahrung war auch für mich eine lange Zeit mein emotionaler Katalysator, dessen Ausmaß ich eigentlich nur mit Hilfe einer Therapeutin verstehen und in einem jahrelangen (vermutlich immer noch andauernden) Prozess aufarbeiten konnte. 🤯

Um mich dem ganzen Thema nun nochmals besser annähern zu können, habe ich mich an unsere Expertin Julia Tanck (31), Psychologin (M.Sc.) & Psychotherapeutin (KVT) mit Schwerpunkt Verhaltenstherapie, Körperbild und Essstörungen gewandt. Von ihr wollte ich wissen, inwieweit solche Kommentare unserer Familie (wie von Angelinas Oma) mit Essstörungen zusammenhängen? Und ob dies sogar als Mobbing oder Bodyshaming zu bezeichnen ist. Große Worte, die die meisten wahrscheinlich nicht unbedingt mit ihrer Family in Verbindung bringen würden.

» Es sind Erziehungsberechtigte, die oftmals selber gar nicht wissen, was Worte oder Taten anstellen «
Angelina Kirsch im RTL-Interview

Denn mal ehrlich, irgendwelche blöden Kommentare bei Familientreffen musste sicher jeder mal einstecken. Nette Worte über mein „Hüpfgold“ sind da auch bei mir noch hängengeblieben. Doch ich kann nicht behaupten, dass ich das mit Mobbing oder Bodyshaming gleichsetzen würde, woraus dann letztlich meine Essstörung resultiert hätte. Ganz bestimmt nicht. Und selbst den Kommentar von Angelinas Oma würde ich eher mit kommunikativer Unbeholfenheit, Unwissenheit oder fehlender emotionaler Kommunikation gleichsetzen. Aber Bodyshaming? Das ist schon ein sehr harter Begriff.

Doch wie ich von unserer Expertin Julia Tanck erfahren habe, ist Angelinas Bezeichnung keineswegs übertrieben!!! Denn die körperbezogenen Bemerkungen, das Bewerten eines anderen Körpers müssen nicht einmal bewusst bösartig oder beleidigend gemeint sein, um bei dem/der Empfänger:in eine Wunde mit langjährigen Folgen in der Entwicklung des Selbstwert- und Körpergefühls zu hinterlassen. Wir kennen es, manchmal werden Dinge gesagt, die beim Gegenüber ganz anders in der Bedeutung ankommen. So signalisieren Aussagen, die ursprünglich (vielleicht sogar) als sorgsame Warnung dienen sollten (was in Angelinas Fall ja sogar so gewesen sein könnte), durch Wortwahl und Sprache die Nachricht des Nicht-genug-Seins. 😖  Es sind erziehungsberechtigte, die oftmals selber gar nicht wissen, was Worte oder Taten anstellen,“ so auch Angelina im RTL-Interview.

Das wird auch im Interview mit unserer Expertin Julia Tanck deutlich. Also, los geht’s!

Wie Bodyshaming und Essstörungen durch die eigene Familie zusammenhängen

*Zum Verständnis: Eine Essstörung gilt als Überbegriff für eine psychosomatische Erkrankung oder Verhaltensstörung, bei der die ständige gedankliche und emotionale Beschäftigung mit dem Thema „Essen“ eine zentrale Rolle spielt. Essstörungen betreffen die Nahrungsaufnahme oder deren Verweigerung. Die drei häufigsten Essstörungen sind Anorexie (Magersucht), Bulimie (Ess-Brech-Sucht) und die Binge-Eating-Störung (Esssucht ohne Erbrechen). Erschreckend ist, dass Essstörungen in unserer Gesellschaft – gerade bei jungen Frauen, aber auch Männern –  schon fast so „normal“ geworden sind, sodass viele die Symptome als natürlich abtun, die Gefahr nicht wahrnehmen und sich erst nach Jahren richtig damit auseinandersetzen und Hilfe zulassen. Laut der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung zeigen 30 bis 50 Prozent der Kinder und Jugendlichen in Deutschland im Alter von elf bis 17 Jahren Symptome einer Essstörungen – Tendenz steigend.

TC: Liebe Julia, was dürfen wir unter gewichtsbezogenem Bodyshaming verstehen?

Julia: Per Definition ist „Bodyshaming“ die Demütigung oder Erniedrigung einer Person in Form von kritischen oder spöttischen Kommentaren über dessen Figur oder den Körper.

In der Forschung spricht man häufig von dem sogenannten „weight based teasing“, zu deutsch den gewichtsbezogenen Hänseleien.

Und wäre eine Aussage ohne weiteren Kontext wie „Mädels, ihr seid zu dick“ als Bodyshaming zu verstehen? 

Ja, so eine Aussage ist als kritischer Kommentar in Bezug auf den Körper zu verstehen, beinhaltet eine negative Wertigkeit und erfüllt somit die Kriterien für Bodyshaming.

Wie würdest du den Griff in den Bauch eines Kindes (als neckenden Hinweis auf eine Gewichtszunahme zum Beispiel) einstufen?

Das ist ein typisches Body-Checking-Verhalten, welches auch mit der Entstehung von Körperbild- und Essstörungen zusammenhängen kann.

Es kann, muss aber nicht direkt eine Essstörung dadurch entstehen?

Aus meiner Erfahrung hat das (Bodyshaming) häufig einen Einfluss auf die Entwicklung von gestörtem Essverhalten. Wichtig zu verstehen ist, dass gestörtes Essverhalten nicht gleichzusetzen ist mit einer Essstörung. Damit sich eine Essstörung entwickelt, kommen immer mehrere Faktoren zusammen, die in der Summe dann die Ausprägung einer Essstörung ausmachen.

Es zeigt sich in vielen Studien ein Zusammenhang zwischen Erfahrungen gewichtsbezogener Hänseleien und niedriger Körperzufriedenheit, niedrigem Selbstwertgefühl und depressiven Symptomen. Man kann also sagen, dass derartige Kommentare in Bezug auf den Körper sehr problematisch sind und weitreichende Folgen (wie ein gestörtes Essverhalten oder eine Essstörung) haben können. (…) Wenn dann noch weitere belastende Ereignisse hinzukommen (z.B. Mobbing in der Schule, Trennung der Eltern, Traumata, Todesfälle, etc.) kann es dazu kommen, dass sich eine psychische Erkrankung entwickelt. Studien zufolge haben derartige Bemerkungen nicht nur einen Einfluss auf das Körperbild, sondern können auch zu der Entwicklung von Depressionen führen.

» Essgestörtes Verhalten ist in unserer Gesellschaft so weit verbreitet und Teil der Kultur, dass es den meisten gar nicht mehr auffällt. «
Julia Tanck

Wie häufig berichten Patienten:innen, dass sie Bodyshaming direkt in der Familie erfahren haben?

Hier kann ich keine konkrete Prozentzahl nennen. Ich würde aber sagen, der Großteil der Betroffenen berichtet, derartige Kommentare erlebt zu haben. Oft berichten mir Patient:innen, dass sie bereits früh mit gewichts- und körperbezogenen Kommentaren konfrontiert waren. Oft seitens des Elternhauses und oft auch in der Schule. Kommentare wie „Mit deiner Figur wirst du XY nicht schaffen.“ oder „Das solltest du lieber nicht mehr essen.“ (um noch „harmlosere“ Beispiele zu nennen) oder in den Bauch kneifen, um zu demonstrieren, dass er zu dick ist, hat der Großteil erlebt.

Und wie würde ein optimaler, gesunder Umgang von Eltern/Familie zu ihren Kindern aussehen, wenn tatsächlich Übergewicht vorhanden ist?

In solchen Fällen empfehle ich, sich zunächst an den Hausarzt/die Hausärztin zu wenden und wenn der Verdacht auf essgestörtes Verhalten besteht, eine*n Psychotherapeut*in zu kontaktieren, damit sich keine Essstörung etabliert. Im Umgang mit dem Kind würde ich darauf achten, geregelte Mahlzeiten einzuhalten und ausgewogenes Bewegungsverhalten zu unterstützen. Ich würde nicht empfehlen, eine radikale Diät oder Kalorienrestriktion einzuleiten, da dann die Gefahr besteht, dass Essanfälle und sog. „Craving“ auf „ungesunde“ Lebensmittel entsteht.

Empfiehlst du jungen Erwachsenen, ihre Eltern/Großeltern mit der früheren Situation und den Auswirkungen zu konfrontieren, um ein besseres Selbstwertgefühl aufzubauen?

Auf jeden Fall. (…) Häufig haben Menschen mit Essstörungen sehr sensible Antennen dafür, was das Umfeld erwartet, was die Bedürfnisse der anderen sind. Die eigenen Bedürfnisse bleiben dabei viel zu oft auf der Strecke.

Ein erster Schritt dahin, sich selber, die eigenen Bedürfnisse und Gefühle ernster zu nehmen ist, anzusprechen, wenn einen selbst etwas verletzt oder stört. Nur so können andere auch daraus lernen und man selber lernt, dass man wichtig ist und die eigenen Gefühle valide sind und ihre Berechtigung haben. Das stabilisiert langfristig das Selbstwertgefühl, da man lernt, die eigenen Bedürfnisse wieder auszudrücken und danach zu handeln.

Welchen Wandel wünscht du dir für dich und deine Patient:innen ?

Ich würde mir wünschen, dass das Thema Gewicht und Körper an Bedeutung verliert und mehr Wert auf andere Aspekte des Kindes gelegt wird, wie zum Beispiel Charaktereigenschaften. So lernt das Kind, dass es unabhängig vom Aussehen geliebt und wertgeschätzt wird und lernt eine Körperneutralität (#bodyneutrality). Body Neutrality heißt, sich morgens nach dem Aufwachen als Erstes zu fragen: ‚Wie fühle ich mich in meinem Körper?‘ Es geht darum, herauszufinden, was du brauchst, um dich gut zu fühlen (…) Das Ziel ist, das Selbstwertgefühl weniger an die äußere Erscheinung zu koppeln und vielmehr an positive Charaktereigenschaften und die Funktionalität des Körpers.

Fazit

Ihr lest es heraus, Leute, das Interview behandelt ein wirklich intensives Thema, das in vielen Familien sicher als Tabu-Thema gehandhabt wird. Denn gerade von unserer Family erwarten wir natürlich eigentlich eine reife Kommunikation, sowie ein Vorbildverhalten, wenn es um die Learnings des Lebens geht. Und dazu gehört auch der gesunde Umgang mit Essen und unserem Körper. 🙏  Nun zu lesen, dass – ich nenne es mal – saloppe Äußerungen von früher aber tatsächlich extreme Auswirkungen auf das spätere Selbstwertgefühl haben können, ist da natürlich eine große Aussage. Und deswegen möchte ich auch noch einmal darauf hinweisen, dass dieser Text keine direkte Schuldzuweisung an irgendjemanden sein soll. Er soll vielmehr Verständnis schaffen und aufzeigen, dass Essstörungen und Bodyshaming in der Familie tatsächlich zusammenhängen können. Oder das letzteres zumindest ein Faktor davon sein kann, Probleme mit dem Selbstwertgefühl zu entwickeln.

Und dennoch sind wir am Ende alle Menschen mit ganz individuellen Erlebnissen und Erfahrenem. Es ist also sehr schwierig, unsere Psyche zu pauschalisieren und haargenau bestimmen zu können, welches Erlebnis wirklich zu welchem Trauma, welcher Essstörung und welcher Entwicklung geführt hat. Doch wie Julia Tanck auch richtig andeutet, können bestimmte Bemerkungen und Kommentare nun mal weitreichende Folgen haben und tatsächlich bis ins Erwachsenenalter im Gedächtnis präsent bleiben.

Für eine Heilung ist es daher so wichtig, dass eine Aufarbeitung der Kindheit und Jugend stattfindet. Und um das zu erreichen, ist ein großer Schritt, über die unangenehmen Situationen zu sprechen, um so bestenfalls aus der gestörten Beziehung mit Essen austreten zu können und ein gesundes Verhältnis mit dem eigenen Körperbild und der Selbstwahrnehmung zu erlernen. ❤️  

Danke also, liebe Julia Tanck, an dieser Stelle für das aufschlussreiche Interview. Ihr findet sie übrigens auch mit einem einzigartigen Aufklärungs-Bewusstseins-Kanal auf Instagram. Hier erfahrt ihr alles rund um das Thema Körperbild und Essstörungen, sowie eine Community, die ihre Erfahrungen untereinander austauscht. Schaut einfach mal rein!

x Fine

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