Können wir bitte aufhören, über Greta Thunbergs Bahnfahrt zu reden?

Wir schreiben das dritte Adventwochenende, Sonntagnachmittag. Vor mir auf dem Tisch ist ein Backblech mit frisch geformten Vanillekipferl platziert, daneben liegt unbeachtet mein Smartphone. Ein gemütlicher Weihnachtsabend mit Freunden steht an. Einer, der meine Aufmerksamkeit einfordert und das Handy gerne mal in Vergessenheit geraten lässt. Bis plötzlich mehrere Notifications gleichzeitig meinen Blick einfordern.

Mehrmals leuchtet der Bildschirm auf. Mehrmals für die selbe Push-Benachrichtigung von verschiedenen Medien, deren App ich heruntergeladen habe: „Greta Thunberg muss im ICE nicht auf dem Boden sitzen – sondern reist stattdessen erste Klasse durch Deutschland“. Meine Augenbrauen wandern in die Höhe. Nicht etwa, weil ich aus dem meditativen Prozess des Teigrollens gerissen wurde, sondern weil die Schlagzeile so bezeichnend ist. Für ein Problem, das in der Klimadebatte inzwischen allgegenwärtig zu sein scheint.

Eine Schülerin füllt die Schlagzeilen

Greta Thunberg im ICE. Es ist offenbar DIE sensationelle Nachricht, die im Bezug auf den zweiwöchigen UN-Klimagipfel in Madrid in den Köpfen bleibt. Genau sie bestimmt momentan nämlich die Diskussionen im Netz. Nicht etwa die verspätete Abschlusserklärung steht also im Fokus, oder die Tatsache, dass man sich unter den 200 beteiligten Ländern kaum überhaupt zu einer solchen hindurchringen konnte. Sondern stattdessen jeder einzelne Schritt der Greta Thunberg. Once again. Auch heute, einen Tag nach Beendigung des Gipfels, ist vorrangig der aufgebauschte Bahn-Skandal ein Thema. Weil die Schwedin mit *hier random eine Aktion einfügen* mal wieder an den Pranger gestellt werden kann.

Nicht nur mir fällt diese verquere Prioritätensetzung auf. Ein fassungsloses Kopfschütteln an der Plätzchenfront ist die Folge. Wie kann es sein, dass wir mehr über die ICE-Fahrt eines 16-jährigen Mädchens reden, als über das politische Scheitern einer kompletten Konferenz? Klar, Greta Thunberg ist, ob nun gewollt oder nicht, zum Gesicht einer Bewegung geworden. Sie polarisiert. Und sicherlich ist auch die eigene, selektive Wahrnehmung Schuld daran, wie häufig uns Artikel über sie ins Auge stechen.

Die Push-Benachrichtigungen auf meinem Handy sprechen trotzdem eine eindeutige Sprache. Denn dieselbe, überwältigende Aufmerksamkeit hat der Ausgang des „COP25“-Gipfels bei Weitem nicht bekommen. Können wir darüber vielleicht mal kurz sprechen?! 200 Staaten hatten beinahe zwei Wochen lang Zeit dafür, sich auf weitere Maßnahmen zum Klimaschutz zu einigen. Herausgekommen ist dabei: ein Minimal-Kompromiss. So wurden vor allem bereits gefällte Entscheidungen des Pariser Klimaabkommens erneut bestätigt. Doch „kein Rückschritt“ bedeutet nicht gleichzeitig „Fortschritt“. Die wichtigsten Entscheidungen dagegen, beispielsweise in Bezug auf den Gutschriften-Handel von eingesparten Emissionen, wurden erneut verschoben. Klimaökonom Reimund Schwarze spricht gegenüber „SpiegelOnline“ von einer „rein kosmetischen Lösung“. Strengere Auflagen oder weitere Anforderungen? Fehlanzeige. Das Fazit einer zähen Konferenz? Es wäre schön, wenn alle Staaten wenigstens die bereits festgeschriebenen Auflagen für 2030 etwas verschärfen würden.

Faktenbasierte Nachrichten sollten im Fokus stehen, nicht emotionale

Lohnt es sich denn nicht, im Diskurs genau darauf auch die größte Aufmerksamkeit zu lenken? I mean, I (kinda) get it. Greta funktioniert. Greta wird geklickt, gelikt, gehatet, geshitstormed. Warum also nicht mit einer polarisierenden Headline die eigenen Klickzahlen erhöhen? Im Artikel kann man die Geschehnisse schließlich immer noch in den richtigen Kontext rücken … oder etwa nicht? Blöd nur, dass etliche Menschen bereits nach der Überschrift aufhören weiterzulesen. Auch ich selbst kann mich davon nicht immer freimachen. Warum soll es anderen also nicht genauso gehen?!

Und damit hätten wir ihn wieder. Den falschen Fokus in einer so wichtigen Angelegenheit. Die Streitfrage bleibt weiterhin das größte Thema: „Hat Greta das Bild aus dem überfüllten Zug nur gestaged?“ „Steckt raffiniertes Marketing dahinter?“ „Warum muss eine Klimaaktivistin 1. Klasse fahren?“ „Ist sie eine Heuchlerin?!“. Dabei sollte es nebensächlich sein, ob Greta Thunberg nun im Zug auf dem Boden sitzen muss oder stattdessen 1. Klasse fährt. Selbst wenn es zum Zwecke der Selbstinszenierung (wie es Familienministerin Franziska Giffey im BILD-Talk „Die richtigen Fragen“ formuliert) passiert.

Eine Diskussion übers Zugfahren überschattet alles

Plötzlich steht ein Randereignis im Mittelpunkt. Der Klimawandel wird (wieder) zur Glaubensfrage. Mag ich Greta Thunberg? Dann unterstütze ich jeden ihrer Schritte. Geht sie mir auf die Nerven? Dann verurteile ich auch die gesamte Klimadebatte. Fakten von Wissenschaftlern werden nebensächlich. Ergebnisse eines politischen Krisengipfels sowieso.

Wer jetzt noch konstruktiv über die Erfolge, oder auch Misserfolge, einer zweiwöchigen Konferenz sprechen möchte, bekommt garantiert wieder die Greta-Keule ins Gesicht. „Aber Greta Thunberg hat doch …“. Ja, sie HAT. Ja, sie lebt und atmet und isst und muss irgendwie nach Hause kommen. Manchmal vielleicht sogar mit Plastik in der Hand. Himmel! Können wir es damit jetzt bitte auch  wieder gut sein lassen?!

Sie als Einzelperson will Aufmerksamkeit für eine Sache generieren – nicht für sich selbst. Für die Klimakrise nämlich. Hups. Haben wir die in der ganzen Aufregung etwa schon wieder vergessen?! Wir verlieren uns in einer Diskussion aus persönlichen Befindlichkeiten. Über eine Person, die sich sowieso schon mehr einsetzt, als wir alle zusammen. Ich jedenfalls möchte an diesem Punkt nicht mehr über Greta Thunbergs Heimweg sprechen müssen.

Der mediale Fokus muss weg von ihr, hin zur eigentlichen Problematik. Und vor allem hin zu denjenigen, die schon seit Jahren – ohne große Reichweite – für mehr Umweltbewusstsein kämpfen. Greta allein ist nicht die Klimadebatte. Sie ist eine von vielen, die sich gegen die Folgen der Erderwärmung und für den Schutz des Klimas einsetzen.

Greta Thunberg ist eine von vielen!

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Die Aktivistin selbst macht es vielleicht am besten vor. Während einer Podiumsdiskussion in Madrid überließ sie das Wort anderen Jugendlichen. Denen, die eine solche Bühne mehr benötigen, weil sie seltener gesehen werden. Die US-Ureinwohnerin Rose Whipple beispielsweise, Kisha Erah Muaña von den Philippinen, der Russe Arschak Makitschjan oder auch Nakabuye Hilda Flavia aus Uganda. Aktivist*innen aus Ländern, die akuter, schneller, JETZT BEREITS von der Erderwärmung betroffen sind. Und die gleichzeitig nicht mal ansatzweise so stark für die Ursachen verantwortlich sind.

Aber hey, ja. Lasst uns lieber weiterhin darüber streiten, wer jetzt eigentlich blöder ist – die Deutsche Bahn oder Greta. Lasst uns lieber die genaue ICE-Strecke ausfindig machen, auf der sich die Jugendliche befand. Und lasst uns am besten noch über ihren Blick diskutieren, den sie in Richtung Wagontür wirft … Ist das Ausmaß jetzt vielleicht etwas deutlicher geworden? 

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