Iss mir egal: Warum beschränkt sich euer ethisches Gewissen eigentlich nur auf das Essen?

Neulich traf ich mich mit einer Freundin auf einen Kaffee. Eigentlich war ich davon ausgegangen, wir würden uns dafür hinsetzen, aber weil wir beide unsere Hunde mit dabei hatten (und beide ziemlich fordernd = unerzogen sind), schlug sie vor, wir könnten ja uns einen Kaffee mitnehmen. „Einen Soja Latte to Go“, bestellte sie also und erntete dafür einen fragenden Blick von mir.„Ich versuche jetzt ganz vegan zu leben“, erklärte sie, ein ehemaliger Steak- und Wurstfan, stolz. „Es ist einfach Wahnsinn, wie viel Kohlendioxid durch Massentierhaltung produziert wird.“

Das ist mir nicht neu. Ich esse seit gut 12 Jahren kein Fleisch mehr und auch schon vorher habe ich nur äußerst ungern Schinken, Wurst und Co gegessen. Mir sind die Vor- und Nachteile veganer und vegetarischer Ernährung bekannt, nur gehe ich damit nicht jedem auf die Nerven. Ich stehe hinter meiner Ernährung und finde es für mich persönlich super, kein Fleisch zu essen. Weil ich es vertrage und weil ich lieber auf Fleisch „verzichte“, als Tiere, die ich liebe, zu essen. Trotzdem finde ich es nervig, wenn andere Menschen sich beim Thema „Essen“ aufdrängen wollen. Essen ist nicht umsonst mehr als die meisten anderen Dinge eine „Geschmacksfrage“. Anderen da reinzureden, finde ich, die Absicht mag noch so gut sein,  übergriffig und in der heutigen Zeit mit all den Essstörungen und Verboten auch nicht ganz umheikel. Besonders wenn die Moralpredigt von einer so ambivalenten Geste, wie dem Griff zum Papp-Coffee-To-Go-Becher untermalt wird. 

Wieso meinen Menschen heute eigentlich ihr moralisches Bewusstsein über das Essen ausdrücken zu müssen?

Versteht mich nicht falsch, ich liebe Tiere und bin früher auf dem Weg in den Urlaub, wann immer ein Viehtransporter am Auto meiner Eltern vorbeifuhr, in Tränen ausgebrochen. Die Art und Weise, wie die Tiere dort zusammengepfercht aufeinander saßen, Schweinebeine auf offener Fahrt auf der Autobahn aus dem Luftschacht raushingen, Tiere die sich vor Angst gegenseitig beißen – das ist für mich unwürdig, unfassbar traurig und sollte ganz selbstverständlich von keinem Menschen, der bei Verstand ist, mit gutem Gewissen unterstützt werden.

» Das Problem was ich mit diesen dogmatischen „Entweder man isst so, oder man isst falsch“-Menschen habe, ist, dass sie anderen ihren Glauben derartig aufzwingen. «

Da ist es mit dem Essen auch nicht anders als mit der Religion: Sobald man versucht zu bekehren, wird es für mich irgendwie unsympathisch. Besonders, wenn man sich zwar in seinen Essgewohnheiten vorbildlich verhält, aber dabei ansonsten gern mal vergisst, wie wir in unserer westlichen Welt grundsätzlich Leid und Elend unterstützen und verursachen.

Der vegane Coffe-To-Go mit Kaffee der – nicht selten von Kindern -für ausbeuterische Löhne geerntet wird und in Pappbechern von Konzernen verkauft wird, die nicht mal Steuern zahlen – das ist nur eines der zahlreichen Oxymorone unserer veganen Hipster-Gesellschaft. Weitere Widersprüche: der vegane Lieferservice, der aus dem 6 Kilometer entfernten Stadtteil per Smart anfährt, wenn es im Supermarkt nebenan eigentlich alles für das Abendessen gibt. Vielleicht nicht Bio und mit Siegel, aber rechtfertigt der 500 Meter weite Fußweg und das Benzinersparnis nicht irgendwie auch wieder den Griff zum konventionellen Gemüse? Lebt ein Mensch, der ab und an Milch in seinen Kaffee schüttet und dafür nicht alle drei Wochen in Shoppingrausch bei Zara und Co. verfällt, um so Textilfabriken und Chemikalien-Einsatz in der Baumwollproduktion zu unterstützen, nicht sogar eher gemäß veganer, friedlicher Grundsätze als jemand, der sich nur um seine Essgewohnheiten schert? 

Menschen sterben bei der Verarbeitung von pestizidbehafteter Baumwolle, Frauen werden in Textilfabriken vergewaltigt, in unseren Smartphones stecken Rohstoffe, die von Kindern ausgegraben werden. Aus den Erlösen von Coltan, das in unseren Mobilgeräten steckt, werden Bürgerkriege in Kongo finanziert. Wieso also sein moralisches Gewissen ausgerechnet mit den eigenen Essgewohnheiten befriedigen wollen?

Schlimmes mit noch Schlimmerem zu rechtfertigen, funktioniert nicht. Das ist mir klar. Deshalb Hut ab, vor all denjenigen, die versuchen, die Welt durch Verzicht auf Fleisch ein Stückchen besser zu machen. Ich finde es absolut beeindruckend, wenn man es schafft wirklich zu 100 Prozent tierfrei zu leben. (Ja, auch ohne Ledertasche, -jacke, -schuhe. Sorry, ich schaffe es nicht). Genauso beeindruckend finde ich es aber auch, wenn man es schafft, sich von den neuesten iPhones unbeeindruckt zu lassen, die Tabakindustrie nicht unterstützt und Kleidung vom Flohmarkt aufträgt. 

Diese Meinung teilt auch Birgit Stratmann vom Hamburger „Netzwerk für Ethik heute“ , die ich nach ihrer Meinung frage: „Ich glaube nicht, dass wir uns 100 Prozent ethisch verhalten können, auch nicht beim Essen, denn fast alles, was wir tun, verursacht irgendwo LeidenSelbst wenn wir nur ein Getreidefeld abmähen, sterben unzählige kleine Lebewesen. Für mich geht es bei der Ethik darum, ehrlich zu sein, genau hinzuschauen und etwas weniger selbstbezogen zu denken und zu handeln.“ Das muss nicht zwangsläufig über den Kaffee mit Sojamilch geschehen. 

» Es gibt niemanden, der in unserer heutigen Zeit zu hundert Prozent fair lebt (- falls es das überhaupt jemals gab). Wir können uns nicht gänzlich von Schuld „freikaufen“, deshalb bin ich dafür, sich den Auftritt als selbstgerechter Moralapostel in Winterjacke mit Waschbär-Fellbesatz doch bitte zu sparen. «

 Jeder soll doch einfach Gutes in dem Maße tun, wie es für ihn sinnvoll, vertretbar und ein besonderes Anliegen ist. Fragt euch, wenn ihr bei Starbucks vorbeigeht, ob es wirklich schon wieder der 5-Euro-Coffee-to-Go sein muss, fragt euch, ob diese neue Jeansjacke wirklich so viel anders aussieht, als die drei, die ihr schon im Schrank hängen habt, ob man im Winter unbedingt nach Südafrika fliegen muss und ob es euer altes Smartphone nicht doch noch tut. Kurzum: Jeder Versuch, die Welt in welcher Form auch immer, besser zu machen, sei es durch Beschränkung des Konsums, Nichtrauchen, Recycling und von mir aus auch gern Verzicht auf tierische Produkte, sind super. Aber setzt doch bitte die Scheuklappen ab und schaut den Film im Breitbildformat.

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