Ein Brief an alle Singles, die kein Bock mehr auf Alleinsein haben

Von kleinauf werden wir darauf gepolt, dass wir nur „ganz“ sind, wenn wir unsere „bessere Hälfte“ gefunden haben. Uns wird beigebracht, dass in einer Beziehung zu sein der bestmögliche und anzustrebende Zustand eines Individuums ist. Also legen wir unseren Fokus im Leben oft ganz automatisch darauf, den „passenden Deckel für den Topf“ zu finden, das „richtige Match“, „Mr. oder Ms. Right“. Natürlich ist eine gesunde und glückliche Partnerschaft zwischen zwei Menschen (welcher Gender auch immer) etwas Kostbares, das das Leben unheimlich bereichern kann. Was uns durch diese ewige Streben nach ewiger Zweisamkeit aber auch kommuniziert wird, ist Folgendes: Du bist nicht genug, wenn du alleine bist. Nun denn, wir leben jetzt im Jahre 2020, so let me break it down for you real quick: Was für ein riesiger Bullshit.

Für viele von euch ist sicherlich das schon Grund genug, um genervt die Augen zu rollen. Lange genug sah das bei mir nicht anders aus – ich war die Erste, die fake-euphorisch ihre Arme in die Luft riss, wenn Beyoncé aus irgendeinem weit entfernten Lautsprecher ihre „Single Girls“-Hymne trällerte. „Look at me – I’m single and miserable“. Ab einem gewissen Punkt ist es fast schon so, als würde man sich mit einem Etikett auf der Stirn durchs Leben bewegen, das allen ganz klar verständlich macht, dass man solo ist, damit auch unzufrieden –  das alles aber irgendwie mit Humor tarnt.

Eine Sache, die man als unglücklich Nicht-Vergebene dann ganz sicher NICHT hören will, ist vor allem dieser Satz: „Du musst dich zuerst selbst lieben, bevor du einen anderen lieben kannst.“ Na, auch schon tausendmal gehört? Auch schon blutige Ohren von dieser Küchenkalender-Weisheit? I feel you. Ohne Witz, I feel you so much. „Ja, ja, ich liebe mich ja, hör mir auf mit dieser Selbstliebe. Ich hab einfach Bock, abends mit jemandem einzuschlafen, der auch am nächsten Morgen noch da ist. Einer, mit dem ich mir sonntags drei Pizzen reinziehen kann, ohne mir darüber Gedanken zu machen, dass ich dann später beim Sex krampfhaft meinen Bauch einziehen muss. Einer, der mich einfach mal in den Arm nimmt, wenn ich einen beschissenen Tag hatte. Einer, bei dem die Definition unseres Beziehungsstatus‘ nicht komplizierter ist als die Datenschutzerklärung bei Instagram.“ Das und nichts anderes dachte ich mir jedes Mal, wenn jemand mit diesem Satz um die Ecke kam.

Nun ja… leicht beschämt und mit einem kleinen Schmunzeln muss ich gestehen, dass ich dir genau damit jetzt auch um die Ecke kommen werde.

Single sein wird erst dann geil, wenn du endlich aufhörst,
dich selbst zu bemitleiden

Ich sag’s, wie’s ist: Ich hatte es satt, alleine zu sein. Wenn andere um mich herum turtelten, konnte ich mich zwar für sie freuen, war früher aber später dann aber vielmehr genervt vom Dauerzustand des fünften Rad am Wagen. Es ist eine schmale Gratwanderung zwischen der Sehnsucht nach Liebe (und vor allem Beständigkeit – cheers an unsere schnelllebige Hashtag-Society), dem selbstbewussten Auftreten als independent woman und dem Versuch, bei all dem nicht verzweifelt und bedürftig zu wirken.

Genau das Wort „bedürftig“ ist der springende Punkt: Vielleicht wirken wir nämlich wirklich buchstäblich bedürftig, wenn wir uns für unser „Alleinsein“ ständig selbst bemitleiden. Nach außen hin senden wir dann die Message, dass wir unbedingt eine zweite Person brauchen, die all unsere Sorgen wegbläst und die eigenen Defizite füllt. Das große Problem hierbei ist, dass das Dating-Umfeld das in 99% der Fälle schon 100 Meter gegen den Wind riecht. Und dann lieber einen großen Bogen um den armen Single macht, der so unbedingt geliebt werden will – weil kaum jemand sich die Last und Verantwortung aufbürden will, jemanden aus seiner Misere zu retten.

Ich hätte nicht gedacht, dass ich einmal authentisch hinter dieser Aussage stehen würde, aber: Hör verdammt nochmal endlich auf, dich in Selbstmitleid zu suhlen, nur weil du keinen Partner hast. Du bist eine ganze Person, vollständig, komplett, absolut vollkommen und ausreichend für alles, was du dir vornimmst.Womit mir andere immer in den Ohren lagen, dieses Gelaber von Selflove first, es ist wahr. Wir vergessen, wie wertvoll Alleinsein ist. Wir vergessen, wie sinnvoll wir diese Zeit nutzen können, um als Einzelperson weiterzukommen. Und damit meine ich nicht, dass man sich am Wochenende so volllaufen lassen soll, dass man für ein paar Stunden vergessen kann, wie ätzend man sich fühlt.

Dinge, die du viel eher tun solltest, als nach einem Partner zu suchen

Damit meine ich: Meditiere. Lerne Achtsamkeit. (How to? Hier entlang!) Schreib Gedanken auf, die dir im Kopf herumflattern. Sortier dein Kopfchaos. Hinterfrage dich. Gibt es alte Muster, in denen du festhängst? Versuche, sie zu erkennen und Schritt für Schritt zu durchbrechen. Stell dir die Frage, ob du gerne selbst mit dir in einer Beziehung sein würdest und beantworte sie gnadenlos ehrlich. Trete endlich alleine die Reise an, die du schon so lange auf deiner Travel-List hast. Überdenke deinen Freundeskreis. Gibt es Freundschaften, die dich nicht mehr bereichern? Triff neue Leute. Eigne dir Wissen an. Lerne, Dinge wieder selbst herzustellen. Fang an zu malen, zu töpfern, oder zu stricken, oder weiß Gott was. (Ganz ehrlich, ich verbeuge mich vor der hotten, jungen Frau, die kürzlich im ICE friedlich ihren Schal strickte.) Mache Sachen, von denen andere denken, sie seien uncool. Entrümple endlich deine Wohnung. Marie-Kondo deinen Kleiderschrank. Belehre dich über den Klimawandel und überlege dir, wie du etwas Gutes tun kannst. Sei freundlich zu Fremden. Nimm mal wieder ein Buch in die Hand, anstand dir mit Netflix die Sinne zu vernebeln. Probiere eine neue Haarfarbe aus. Zieh die Klamotten an, die du anziehen willst, ohne jemandem gefallen zu wollen. Bock auf ein Tattoo, obwohl dein Ex das gehasst hat? Lass es dir stechen.

Sei egoistisch. Das ist deine Zeit, um schamlos egoistisch zu sein.

Es ist so, so, SO wichtig, dass wir wieder lernen, uns selbst auszuhalten – und die Stille, die damit oft einhergeht. Viel mehr noch: dass wir es richtig genießen, mit uns selbst zu sein. Denn ja, ich weiß, es ist der abgedroschenste Bums, den man sich anhören muss, aber: Die längste Beziehung deines Lebens hast du mit dir selbst. Du bist die einzige Person, mit der du garantiert bis zum Ende deines Lebens im Bett liegst. Du bist die einzige Person, die garantiert bis zum Ende deines Lebens in deinem Kopf lebt. Sollte es da nicht die größte Priorität deines Alltags sein, diese Beziehung zu pflegen?

Heutzutage haben wir alle den Luxus, unabhängige Menschen sein zu können, wenn wir wollen. Wir brauchen niemanden, der uns unsere Existenz sichert. Und es ist völlig scheiß egal, ob wir mit 23 beschließen, unsere Jugendliebe zu heiraten, oder ob wir mit 43 Single und kinderlos sind. Aus welchen Gründen auch immer. (Diese Gründe gehen übrigens niemanden auch nur das Geringste an, nur mal so am Rande.) Es gibt nicht mehr den einen Lebensentwurf, nach dem wir alle zu streben haben. Den macht jeder für sich selbst.

Falls du also gerade Single bist und kein Bock mehr auf Alleinsein hast, mach dir eins klar: Die beste Gesellschaft bist und bleibst immer du selbst. Genieße diese Reise, den Prozess. Was am Anfang vielleicht anstrengend und unangenehm ist, wird irgendwann zu einem Zustand, in den du dich richtig verlieben kannst. Und dann, ganz vielleicht, ergibt sich der Rest von selbst… 😉 Und falls auch das nicht hilft – hier ist ein Brief für dich, wenn du gerade völlig in der Einsamkeit versinkst.

 

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