Können schlanke Frauen Bodypositivity überhaupt supporten oder ist das „Thin Privilege“? Meine Gedanken dazu

Ihr glaubt, wir hätten allmählich alles zum Thema Bodypositivity schon mal erlebt und uns könnte nichts mehr Neues dazu auf Social-Media-Kanälen begegnen? Dass im Grunde genommen nur noch der Moment fehlt, in dem wir alle, ungeachtet von Konfektionsgröße, Hautbild oder Anzahl der Cellulite-Dellen, nackt und glücklich vor unserem Spiegelbild stehen und uns alle so akzeptieren und lieben, wie wir eben sind?

Das ist nicht ganz richtig. Aktuell macht nämlich ein neuartiger Hashtag die Runde.  #ThinPrivilege lautet er und bietet mal wieder ordentlich Zündstoff für zahlreiche Diskussion –  denn die Thematik ist eine heikle, fordert Sensibilität und kann auch ein bisschen ungemütlich werden.

Was damit begonnen hat, dass immer mehr schlanke Frauen, die dem veralteten „klassischen Schönheitsideal“ sehr nah kommen, sich in „Same body – different pose“-Collagen auf Instagram zeigen (eine Gegenüberstellung von „perfekt-posierten“ und „normal-entspannten“ Posen), kippte von zunächst positiver Resonanz und Dankbarkeit von Frauen rund um den Globus in mehr Kritik.

Der Vorwurf? Diese Bilder seien nicht authentisch, diese Frauen würden ihre vermeintlichen Problemzonen absichtlich betonen, um einen „Trend mitzumachen“, sie dürften sich nicht beklagen, da sie ja schlank sind, somit privilegiert, und ihre Probleme im Vergleich zu Frauen mit mehr Kilos nicht valide wären. 

„Dünnes Privileg“ sei völlig kontraproduktiv und schädlich für Menschen, die mehr wiegen.

Diese warnende Meinung vertreten nicht nur Body-Acceptance-Aktivistin Radicalsoftness“, sondern auch der Experte Prof. Dr. Dr. med. Werner Mang, ärztlicher Direktor der Bodenseeklinik für Ästhetische und Plastische Chirurgie, der den Social-Media-Trend scharf kritisiert. Ursprünglich hatten Curvy- und Plussize-Körpertypen das Bodypositiviy-Movement ins Leben gerufen und ihre Message war deutlich zu erkennen: Nehmt Instagram und Co. nicht zu Ernst! Du und dein Körper sind gut! Hör auf, dich zu vergleichen! 

Die Kritiker rufen die Frage hervor: Wollen, sollen oder dürfen „schlanke Menschen“ diese Bewegung nun für sich kapern?

Genau diese Fragen habe nun auch ich mir gestellt. Was steckt wirklich hinter Diskussion? Wie sinnvoll, authentisch oder gefährlich ist dieser Trend? Und letztlich: Sind schlanke Frauen in Sachen Körper-Akzeptanz denn nun eine Hilfe oder nicht?  Um mir verschiedene Blickwinkel einzuholen, frage ich nicht nur unsere Follower*innen nach ihren Ansichten, sondern auch die beiden oben genannten Kritiker Prof. Dr. Dr. Mang und die Bloggerin „Radicalsoftness“.

Was bedeutet „Thin Privilege“ überhaupt?

„Dünnes Privileg“ meint die Bevorzugung, die schlanke Menschen in ihrem alltäglichen Leben erfahren und denen sie sich oft gar nicht bewusst sind. Die Gesellschaft geht davon aus, dass eine schlankere Figur der Norm entspricht. Und Menschen, die etwas mehr auf den Rippen haben und dieser sozial konstruierten Norm nicht entsprechen, müssen darunter leiden.

Beim Wort „Norm“ läuft mein Kopf schon heiß: Was ist schon normal? Wer bestimmt das? Und abhängig wovon?

Leider kann weder ich, noch irgendjemand anders eine eindeutige Antwort darauf geben. Aber eigentlich spielt das auch nicht wirklich eine Rolle, denn letztendlich wollen doch unabhängig davon alle dasselbe: inneren Frieden und eine gute Beziehung zum eigenen Körper. Online und offline. Was übrigens Hand in Hand geht.

Machen wir einen kurzen Ausflug in meine eigene Geschichte.

Mein eigenes Verhältnis zu Bewegungen rund um Selbstliebe

Seit 12 Jahren bin ich als Curvy-Model international tätig (zumindest vor Corona). Auf meinen zahlreichen Reisen traf ich Männer und Frauen die alle eins gemeinsam haben: Sie haben oder hatten in der Vergangenheit Schwierigkeiten mit ihrem Körper oder einem spezifischem Körperteil. aus unterschiedlichsten Gründen. Der Hollywood-Schönheitswahn oder frühere Mobbing-Erfahrungen werden oft genannt.

Auch ich hatte unschöne Phasen mit meinem Körper durchlebt, bis ich diesen einen, goldenen Punkt des neutralen „Zero-Fucks“ erreicht habe. Mir wurde bewusst, dass es vollkommen egal ist, wie andere aussehen und das ich alleine diejenige sein muss, die mit sich im Reinen ist. Dieser Prozess der Wahrnehmung und Heilung erfordert Zeit, Arbeit und ein stetig wachsendes Mindset.

Mich persönlich bewegen sämtliche Body-Social-Media-Bewegungen nicht mehr. Ich beobachte sie, freue mich, wenn sie einen positiven Effekt in der Community auslösen, sehe aber auch einiges daran kritisch. Die Menschen sollten im Allgemeinen einfach mal versuchen, ihren Social-Media-Konsum zu reduzieren, Sport zu machen und Zeit in der Natur zu verbringen (…) denn das befreit den Kopf und hat einen positiven Einfluss auf unser Äußeres. – Die Aussage von Prof. Dr. Dr. Mang unterstütze ich beispielsweise vollkommen.

Aber es ist nun mal nicht von der Hand zu weisen, dass es für viele junge Menschen normal geworden ist, viel Zeit auf sozialen Netzwerken zu verbringen. Sie vergleichen sich, bewusst und unbewusst, mit den Bildern der Influencer*innen und deren Körperaufnahmen stellen für viele einen Vergleichswert da.

#SameBodyDifferentPose – ist das hilfreich oder kann das weg?

Als ich mir die Postings der schlanken Influencerinnen zum ersten Mal anschaute, war ich erstmal verwirrt. Ich verstand die Message dahinter nicht, so ehrlich muss ich an dieser Stelle sein. Ich spürte aber auch keine negativen Gefühle dem gegenüber, ich schenkte dem Ganzen einfach gar nicht erst viel Aufmerksamkeit.

Erst als die kritischen Stimmen lauter wurden, bin ich tiefer in die Materie eingetaucht und war nach ein paar Minuten Gedankenbingo positiv überrascht, denn plötzlich fand ich es tatsächlich nett, dass wunderschöne und schlanke Bloggerin (sich) auch öffentlich eingestehen, einen Wahrnehmungsprozess mit ihrem Körper zu durchlaufen. 

» #SameBodyDifferentPose macht meines Erachtens nur Sinn, wenn sich verstärkt Frauen mit ‚normalen‘ Körpern präsentieren. Ansonsten wird eine falsche Realität erschaffen.“ «
Prof. Dr. Dr. med. Werner Mang

Wenn ich aber die „Anklagepunkte“ von „Radicalsoftness“ lese, kann ich auch ihre Ansichten teilweise verstehen: „Mich nerven diese ganzen Posts mit den extra rausgedrückten Fettpölsterchen (…) diese Menschen, welche nicht ins thin privilege fallen, helfen absolut nicht. Sogar im Gegenteil. (…) Bitte drückt nicht extra Fettpolster raus. Die hat jede*r beim Sitzen. Versucht nicht irgendeinen Makel zu finden und diesen dann zu zeigen, nur um beim aktuellen „Bodypositivity“-Trend mitzumachen.

Ganze 418 Kommentare sammeln sich bis jetzt unter dem Posting und argumentieren für und gegen ihre Stellungnahme.

Gleichzeitig plädiert Prof. Dr. Dr. Mang für mehr Realität in den sozialen Netzwerken und weißt darauf hin, dass dann allerdings auch wirklich die Realität gezeigt werden muss: 

„Denn es zeigen sich größtenteils nur Frauen mit 90-60-90-Maßen und so sieht der Großteil der Frauen eben nicht aus. #SameBodyDifferentPose macht meines Erachtens nur Sinn, wenn sich verstärkt Frauen mit ‚normalen‘ Körpern präsentieren. Ansonsten wird eine falsche Realität erschaffen.“

 

Diese Argumente klingen sinnvoll für mich. Im eigenen Freundeskreis erlebe ich oft, dass Aussagen wie „Ich hasse dies und jenes an meinem Körper“ von schlanken Mädels sehr verletzend auf diejenigen wirken, die schon lange mit ihrem schwereren Gewicht kämpfen. Gefährliche Situation.

Dass auch schlanke Frauen ihre Probleme mit ihrem Äußeren haben, ist für mich dennoch nicht abzustreiten. Müssen sie wegen der „Leidensdifferenz“ schweigen? Und wie lässt sich das. Ausmaß von Leid überhaupt messen? Fair wäre es nicht, den Gewichtsunterschied als einzigen Maßstab zu nehmen. Niemand weiß, wie es dem anderen wirklich geht und da landen wir nur wieder bei den Vergleichen, die uns nicht weiterhelfen.

Und das Gedankenkarusell dreht sich weiter, als Schönheits-Prof. Dr. Dr. Mang tiefer geht:Generell war ich zunächst von der Bewegung angetan, denn es ist natürlich gutzuheißen, wenn jemand zu seinen Mängeln steht – gerade in der realitätsfernen Instagram-Welt. Jeder, der sich in seiner Haut wohlfühlt, soll bleiben, wie er ist – egal, ob er eine BMI von 25 oder 18 hat. Allerdings sind auf den meisten Vorher-Nachher-Bildern normschöne, schlanke Körper zu sehen. Bedenklich finde ich, was die Frauen denken müssen, die unter echten Problemzonen leiden, wenn sich wunderschöne Frauen mit einem Hauch von Cellulite oder einer kleinen Rolle am Bauch nicht mehr ins Schwimmbad trauen. Für mich entsteht der Eindruck, dass es ihnen hauptsächlich darum geht, Klicks zu generieren.

Die Frage nach Aufmerksamkeit und-/ oder Clickbait habe ich mir auch gestellt. Ja, es gibt es Blogger*innen, die ihr tägliches Geschäft den Social-Media-Trends anpassen und auf jeder Welle mitsurfen. Doch der Großteil der Influencerinnen, denen ich folge, stellt sich selbst sehr authentisch, humorvoll und unperfekt dar. Also kann es das auch nicht zu 100 % sein.

Anonyme Antworten unserer Leserinnen

Wir wollten auch von unseren Leser*innen wissen, ob es ihrer Körperliebe hilft, wenn auch schlanke Influencerinnen sich in unvorteilhaften Posen zeigen. Die Reaktionen fielen größtenteils positiv aus, wie ihr hier lesen könnt. Fast alle sagten, dass sie sich davon auf gute Art und Weise beeinflusst fühlten und sie es als hilfreich empfinden, zu sehen, dass auch eine 90-60-90-Frau hier und da eine Delle oder Rolle hat – und dass ein Blähbauch vor niemandem Halt macht!

Ein paar wenigen war es egal, Negatives hatte keine(r) zu sagen.

Wäre ein gesunder Lösungsvorschlag nicht, dass wir uns auf unsere eigenen Emotionen und die eigene Selbstwahrnehmung konzentrieren, anstelle uns durch gegenseitiges Bashen und das endlose Diskutieren nur noch mehr voneinander zu entfernen?

Natürlich unterstützen wir unsere Freundinnen in ihrem Prozess, doch unser eigenes Empfinden steht im Vordergrund, und darf nur von uns selbst kritisiert werden – oder bestenfalls bedingungslos geliebt. Wenn wir unseren Fokus wieder mehr auf uns selbst richten, fallen viiiiiiiele Probleme automatisch über Bord.

Ich finde es…

TOLL, wenn es der schlanken Bloggerin im ihrem Prozess hilft, sich im Zusammenhang mit einem Bodypositivy-Movement zu präsentieren!

KLASSE, wenn es dieses Posting einer anderen Person in ihrem eigenem Heilungsprozess hilft!

SPITZE, wenn es für den eigenen Ist-Zustand egal ist, man sich für andere freuen kann und selbst in einer wunderbaren Beziehung mit sich selbst und seinem Körper lebt.

Es sollte also nicht wirklich um die Frage gehen, ob schlanke Bloggerinnen das Bodypositivity-Movement supporten dürfen oder können. Jeder kann alles oder gar nichts supporten! Es geht nicht um sie, es geht um uns selbst und was wir daraus machen! 

» Warum werfen wir generell ständig mit Wörtern wie "dünn" oder "dick" um uns? Warum können wir nicht alle endlich mit dieser Dualität aufhören? «
Fine Bauer

Jetzt hätte ich da mal noch ein paar weitere Fragen

Wenn es mich wütend oder traurig macht, schlanke Bloggerinnen in den #SameBodyDifferentPose-Collagen zu sehen, dann wäre es doch besser mir ganz genau zu überlegen, warum das so ist. Warum triggert mich dieses Thema, was stört mich so sehr daran? Weshalb kann ich es nicht als eine gute Intention, einen anderen Körperprozess ansehen, sondern fühle mich stattdessen dadurch in meinem eigenen behindert?

Die Fragen, die ich verstehen möchte, lauten eher: Warum werfen wir generell ständig mit Wörtern wie „dünn“ oder „dick“ um uns? Warum können wir nicht alle endlich mit dieser Dualität aufhören? Und ist es nicht legitim, dass auch dünnere Menschen ihre Körperzonen haben, mit denen sie weniger zufrieden sind? Vielleicht sogar einen innerlichen Kampf ausfechten?

Haben wir nicht alle dasselbe Ziel? Zu verstehen, dass NIEMAND jemals wirklich perfekt ist, dass das Perfekte nicht einmal existiert, da sowieso alles im Auge des Betrachters liegt? Wollen wir uns nicht alle wohl in unserem Körper zu fühlen und dafür einen mentalen Heilungsprozess durchlaufen, um weitere, vielleicht sogar wichtigere Prozesse in Angriff nehmen zu können, um aus dieser Endlosschleife des Körperwahns auszubrechen?

Diese Fragen sollten wir uns alle viel öfter stellen und bestimmte Thematiken aus mehreren Blickwinkeln betrachten. Wir müssen selbst Verantwortung übernehmen für das, was wir konsumieren und wovon wir uns beeinflussen lassen, ansonsten ist niemandem geholfen. Oder wie es der Beauty-Experte so schön vorschlug: Viel mehr raus in die Natur gehen und das Handy mal zur Seite legen!

Wenn wir alle anfangen, so zu denken, unsere Gedanken stärker zu reflektieren und neutraler an uns heranzulassen, würde es diese ganze Problematik nicht geben. It’s what YOU make out of it.

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