Hier sitze ich, in meiner kleinen bescheidenen Wohnung, tippe diese Zeilen, sehe durch mein Fenster und die Straßen sind leer. Es ist, auch über einen Monat später, noch ein eigenartiger Anblick. Eine Großstadt, die plötzlich aussieht, als sei sie ein Spielbrett ohne Spieler. Und dann blicke ich in den Himmel, und es kommt mir vor, als sei er nie blauer gewesen. Vögeln zwitschern auf einmal wieder tagsüber, weil es nun keinen Straßenlärm mehr gibt, der ihr natürliches Singverhalten stört. Die Kirschblüten blühen in kräftigerem Rosa als je zuvor, oder bilde ich mir das ein?
Hier sitze ich, in meiner kleinen bescheidenen Wohnung, tippe diese Zeilen, sehe durch mein Fenster und stelle mir vor, wie Millionen, Milliarden von Menschen rund um den Globus gerade ebenfalls in ihrem Haus oder ihrer Wohnung sitzen (sofern sie das Privileg haben, eines von beidem zu haben) und ebenfalls durch ihr Fenster schauen. Ich muss nicht in ihrem Kopf sitzen, um zu wissen: Sie stellen sich die gleiche Kernfrage wie du und ich. Wann wird alles endlich wieder normal?
Eine Kernfrage, die sich in hunderte Splitter aufteilt und so viel Ungewissheit hinterlässt, dass man es fast mit der Angst zutun bekommt. Unser Gehirn ist nicht gemacht für diese Situation. Wir sind es gewohnt, „in die Zukunft blicken zu können“, unsere Wochen, Monate, teilweise sogar Jahre zumindest mit Stecknadeln abstecken und deren Verläufe planen zu können. Wir Menschen sind stets danach bestrebt, uns in jedem Aspekt unseres Lebens in Sicherheit zu wissen. Jetzt, da all das wegbricht, fühlen wir uns wie als unfreiwilliger Teilnehmer eines Experiments ausgesetzt auf einem fremden Planeten.
Was wird bleiben nach dieser Krise? Werden wir die Lehren und die Lektionen, von denen wir doch alle pausenlos reden, wirklich gelernt haben? Bleibt Dankbarkeit ein nettes Tattoo-Motiv oder werden wir sie wirklich fühlen? Werden wir, jeder für sich, Verantwortung übernehmen und uns künftig doppelt überlegen, ob wir dieses Konsumgut wirklich brauchen oder ob man Tiere noch essen darf? Werden wir weiterhin freundlich lächeln und „Danke“ sagen, wenn wir in die müden Augen der Edeka-Kassiererin schauen? Endlich (an)erkennen, dass uns aller Prunk und Protz ohne ein stabiles und geschätztes Gesundheitssystem nichts bringen? Werden wir unsere Oma, die beste Freundin oder den Bruder künftig länger in den Arm nehmen als zuvor? Es als Geschenk empfinden, in Urlaub fliegen zu können, anstatt als Freiheitsberaubung, es nicht zu dürfen? Neben all den Ängsten und Befürchtungen, die wir haben, wird irgendetwas Gutes entstehen – und bleiben?
Wo wir doch alle keine expliziten, in Stein gemeißelten Antworten haben, erhofft man sich dennoch eine Einschätzung, an die man sich anlehnen kann, eine Art Orientierung, die ein Fünkchen Klarheit bringt. Am ehesten könne die vermutlich jemand aus der Soziologie geben, dachten wir, jemand, der sich mit fundiertem Wissen mit Gesellschaftsstrukturen beschäftigt und die Krise und deren Auswirkungen besser einschätzen kann. So stieß ich auf Frau Prof. em. Dr. Christiane Bender von der Helmut Schmidt Universität Hamburg. Sie studierte Soziologie, Philosophie, Politikwissenschaft und Volkswirtschaft in Frankfurt am Main und beschäftigt sich heute als Geistes- und Gesellschaftswissenschaftlerin vor allem mit dem sozialmoralischen Fundament moderner Gesellschaften und deren Struktur- und Wertewandel. In einem Telefoninterview hat sie sich einem Bruchteil der Fragen, die in meinem – wohl auch in deinem – Kopf herumschwirren, gestellt.